Unser wissenschaftlich geprägtes Menschenbild führte zu einer Zivilisation, die auf Konsum aufgebaut ist. Eine andere können wir nur mit einem modifizierten Weltbild aufbauen.
Haben die Wissenschaftler die Pflicht zu zweifeln?
Kann man, ohne zu zweifeln, Wissenschaft betreiben? Ja, leider.
Ich denke da zum Beispiel an die Ökonomen. Sie haben ihre ganze Disziplin auf den Annahmen aufgebaut, dass die Ressourcen der Natur nichts kosten und unbegrenzt verfügbar sind, dass die Wirtschaft unendlich wachsen kann und dass die Akkumulation des Reichtums quasi ein Naturgesetz ist. Wussten die Damen und Herren Ökonomen nicht (es waren eigentlich fast nur Männer), dass sie auf einem endlichen Planeten leben: mit endlichen Ressourcen und begrenzter Kapazität, den Abfall aufzunehmen und abzubauen? Wäre es nicht ihre Pflicht, darüber nachzudenken und es dann auch sagen, dass unendliche Anhäufung von Geld in Händen einiger weniger das gesellschaftliche Gefüge zerstören muss und dass die mit dem Reichtum einhergehende Macht die Demokratie gefährden kann? Sicher. Aber es hat sie nicht interessiert. Zweifel gab es nicht. Viele Jahrzehnte lang nicht. Zweifel waren sogar verpönt!
Nun haben die Wissenschaftler in unserer modernen Gesellschaft eine ganz besondere Stellung: Sie entscheiden darüber, was wahr und was unwahr, was real und was eine Illusion ist. Sie sind Experten, und ihre Meinung bestimmt darüber mit, in welcher Welt wir leben. Sie beraten Regierungen, werden von den Medien befragt, entscheiden de facto darüber, was unsere Kinder lernen und (indirekt) wie sie erzogen werden usw., usw.
Das reduktionistische Weltbild und die Folgen
Erweitern wir das Blickfeld und schauen auf unsere moderne Zivilisation, auf ihr materialistisches, reduktionistisches Paradigma. Es formte das heutige Weltbild und das Selbstverständnis der Menschen. Unter den Wissenschaftlern sind Zweifel über seine Richtigkeit bis heute im Grunde genommen tabu. Versuchen Sie als Biologin es infrage zu stellen, dass das Leben Materie ist, oder als Soziologe, dass die Moral gesellschaftlichen Ursprungs ist.
Was dieses materialistische Paradigma bewirkt, können wir mit bloßem Auge beobachten: Zerstörung der Natur, zunehmende Seichtheit der Kultur, moralische Relativierung in der Gesellschaft. Dieses Paradigma kann einfach nicht wahr sein! Ich sage das, weil ich der Meinung bin, dass es keine Wahrheit gibt, die man nach Bedarf zuschneiden kann, so eng, dass sie in eine schmale Spalte eines Fachgebiets passt. Wenn man anschließend viele solche Teilwahrheiten übereinanderlegt, werden sie dadurch nicht wahrer. Im Gegenteil: Je mehr Teilwahrheiten übereinanderliegen, umso unrichtiger das Ganze.
Wenn Sie die Wissenschaftler fragen, ob es so etwas wie Wahrheit gibt, werden sie es verneinen. Wissen sie nicht, was diese Ansicht in den Menschen und in der Gesellschaft bewirkt?
Ich meine außerdem, dass das, was das Leben, den Menschen und die Gesellschaft zerstört, reduziert, schmälert, was das Gute schwächt und das Böse stärkt, nicht wahr sein kann. Warum? Weil alles, was wirklich wahr ist, eine Reflexion der Wahrheit ist, und Licht und Dunkelheit können nicht nebeneinander bestehen. Deswegen kann Wahrheit, die wirkliche Wahrheit, nicht destruktiv sein. Behauptungen, die zur Zerstörung der Welt und zur Schwächung der Gesellschaft führen, müssen wir immer infrage stellen. Als Wissenschaftler sollten wir alles, was den Menschen schwächt, was sich negativ auf das Zusammenleben in der Gesellschaft auswirkt oder was Leben zerstört, zuerst mal bezweifeln. Und wissen Sie was? Ich wette, dass diese Einstellung auch in der jeweiligen Teildisziplin zu mehr Verständnis, zu mehr Wahrheit führen wird. Schon alleine deswegen, weil man dadurch zwangsläufig sein Blickfeld erweitert.
Zum Selbstverständnis der Wissenschaft gehört es nicht, über die Folgen ihrer Entdeckungen und Hypothesen nachzudenken. Nach dieser Logik müssten es auch die Politiker oder Pädagogen nicht. Und sie tun es leider auch immer seltener!
Wenn in unserer Gesellschaft die Experten darüber bestimmen, was Menschen als wahr betrachten, und oft auch darüber, wie die Entscheider entscheiden, werden sich die Krisen unserer Zivilisation und Gesellschaft weiter vertiefen, solange die Experten ihre bisherigen Aussagen nicht revidieren. Und das bedeutet, dass sie wieder zweifeln, grundsätzlich zweifeln lernen müssen.
Die Umweltzerstörung und das Menschenbild
Ich denke seit Jahren darüber nach, warum unsere Zivilisation und Kultur diesen bestimmten Weg gegangen ist, warum sie dabei ist, die natürliche Welt und sich selbst zu zerstören. Dabei ist es mir zunehmend klar geworden, dass die Entwicklung der Wirtschaft und unserer Lebensart zwingende Folgen unseres Welt- und Menschenbildes sind.
Wie betrachten wir die Welt? Als eine Ansammlung von Dingen, als Ressource, als etwas, was man benutzen und ausnutzen darf, als tot und damit moralisch irrelevant, als ein Mittel zum Vergnügen und Spaß. Und wie sehen wir uns selbst? Als denkende und fühlende Körper, als handelnde Objekte eines gesellschaftlichen Spiels mit offenem Ausgang und ohne moralischen Belang. Was ist der Kern des Menschenbildes hinter der Psychologie, hinter den wichtigen Entscheidungen des Staates, hinter dem Lebensziel, das die Eltern ihren Kindern vermitteln? Der Körper mit seinen Bedürfnissen und Wünschen und die Persönlichkeit, Individualität, also vor allem das Ego mit seinem Geltungsbedürfnis. Dieses Menschenbild produziert systematisch seit zweihundert Jahren die unersättliche Gier, in der unsere Welt versinkt. Es ist die Gier, von allem immer mehr zu wollen und es sich auch zu nehmen.
Das Selbstbild der Menschen schrumpft immer weiter auf Genuss, und der gesellschaftliche Rahmen hebt zunehmend die Verantwortung und die Selbstverantwortung auf, eine Generation nach der anderen.
In unserem modernen westlichen Selbstverständnis kommen wir aus dem Nichts und gehen in das Nichts. In der Zeit dazwischen versuchen wir für den Körper und den Geist, die wir in unserem reduktionistischen Weltbild sind, den meisten Nutzen zu ziehen. Und was ist dieser Nutzen? Mühelosigkeit, Bequemlichkeit, Spaß, Bewunderung durch die soziale Umgebung, Macht, Reichtum… Ja, viele von uns haben auch höhere Ziele, streben nach ideellen Errungenschaften – manche sogar selbstlos. Aber das ist nicht der Hauptstrom unserer Kultur, und schon gar nicht in den letzten Jahrzehnten.
Das Selbstverständnis des modernen Menschen und seine Lebensziele sind innerhalb eines Weltbildes entstanden, das systematisch Werte und Verantwortung aus dem Zuständigkeitsbereich des Einzelnen verbannt hat.
Aus diesem Weltbild und aus diesem Menschenbild resultiert die Marktwirtschaft, die de facto unsere Lebenswelt ist und die die Biosphäre in Geld, Macht, Bequemlichkeit und Spaß verwandelt. Und das ist der Kern meiner Einsicht: Unser Denken, unser Verständnis des Menschen und seines Lebensziels, unser Weltbild sind die eigentlichen Ursachen der Katastrophen, der Zerstörung, auf die wir uns heute hinbewegen.
Die Verantwortung der Wissenschaftler
Und wo hat dieses Welt- und Menschenbild seinen Ursprung? In dem materialistischen, verdinglichten, sterilen Weltbild der Wissenschaften seit der Aufklärung. In Descartes, in Newton, in Locke, in Smith, in Freud. Davor waren das Weltbild und deswegen auch die Welt anders. Ohne das materialistische, reduktionistische Weltbild würde sich die Welt nie zu dem Monster, das die heutige Marktwirtschaft meiner Meinung nach ist, entwickeln. Übrigens würde sich auch in der Gesellschaft nicht derart Seichtheit und Kleingeistigkeit, Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit breitmachen.
Die Zerstörung der Natur und die Kommerzialisierung des Denkens sind ein zwingendes Resultat des Menschen- und Weltbildes, und dieses folgt wiederum aus der analytischen Einseitigkeit der modernen Wissenschaftler.
Sie könnten sagen: Die (sogenannten) einfachen Menschen hören doch nicht auf die Wissenschaftler. Ich würde erwidern: Das brauchen sie auch nicht, weil sie in einer Welt aufwachsen, die bereits von den Vorstellungen der Wissenschaften geformt wurde. Der Bäcker oder die Managerin werden heute in eine Welt geboren, in der die Natur nichts Heiliges enthält, in der sie sich selbst nicht als Gottes Kinder betrachten, in der Werte nichts Absolutes sind, in der es nichts Transzendentes gibt. Auch die Wahrheit gibt es in dieser Welt nicht – alles wurde bereits auseinandergenommen und relativiert. Die Menschen müssen nicht über diese Sachen nachdenken. Es ist einfach die Welt, in die sie geboren wurden.
Ich sage nicht, dass wir das, was uns die moderne Wissenschaft an Wissen über die Welt gebracht hat, streichen sollen. Natürlich nicht! Es ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Universums, der Erde und des Lebens. Ich werfe den Wissenschaften lediglich vor, dass sie die Demut verloren haben, die jeder Wahrheitssuchende haben sollte. Sie haben bewusst ihren Blick von dem großen Ganzen und von Werten und Absichten abgewandt. Sie haben das, was dem Menschen und der Gesellschaft am wichtigsten sein sollte, aus dem Bereich des Wahren und Objektiven ausgegrenzt. Sie haben uns dadurch vermittelt, dass die Welt keinen (übergreifenden) Sinn hat, ja, haben kann. Das Ergebnis ist der entwurzelte Mensch, der seiner spirituellen Heimat beraubt wurde.
Und deswegen bin ich zum Schluss bei der These angekommen, dass wir keine andere Welt haben können, wenn diejenigen, die mit ihrer Autorität dieses materialistische Nutz-Weltbild erschufen, es nicht revidiert haben. Liebe Wissenschaftler, liebe Professoren und Leiterinnen von Forschungsinstituten: Ich lege eine bessere, eine sich nicht mehr selbst zerstörende Welt in Ihre Verantwortung.
Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.
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