Alan P. Stern im Interview über Spirituelle Ökologie.
Continentia: Herr Stern, können Sie uns sagen, was Spirituelle Ökologie ist?
Alan P. Stern: Es ist ein neuer Blickwinkel auf den Naturschutz. In unserem Kulturkreis haben wir uns daran gewöhnt, Glück, Wahrheit und Entwicklung in der äußeren materiellen Welt zu suchen. Das augenscheinlichste Ergebnis dieser Sicht der Welt ist die Zerstörung intakter Natur und die Erderwärmung. Also es ist nur pragmatisch und gesunder Menschenverstand, unser Weltbild infrage zu stellen. Das ist der Standpunkt der Spirituellen Ökologie.
Continentia: In der Ökologie geht es um Luftverschmutzung, Verseuchung der Meere mit Plastik und ökologische Landwirtschaft. Was kann da die Spirituelle Ökologie helfen?
Alan P. Stern: Sehr viel. Zuerst müssen wir anerkennen, dass es außer dem äußeren Universum, das wir mit den Augen sehen können, in jedem von uns ein inneres Universum gibt. Damit meine ich nicht Gedanken, Träume und Gefühle. Sie sind nur ein Vorzimmer, das uns mit seinem Geschwätz und Getue von dem eigentlichen Raum im Inneren abschirmt. Dieser Raum ist mindestens so unendlich wie der äußere und wartet darauf, entdeckt zu werden. Bereits nach den ersten Schritten, die wir in diesem Raum machen, entwickeln sich in uns Mitgefühl, Rücksicht und Güte. Die weiteren Schritte bringen mit sich eine wachsende Gewissheit, dass die Kräfte des inneren Universums allen Menschen gemeinsam sind, dass sie uns sogar mit allem Leben verbinden. Wenn man das verstanden hat, wenn man es in seinem Inneren erfahren hat, wird man nie mehr das Leben absichtlich oder gedankenlos zerstören. Das macht das Wesen der Spirituellen Ökologie aus.
Continentia: Meinen Sie wirklich, dass die Denkweise Einzelner die Erderwärmung aufhalten kann?
Alan P. Stern: Ich meine, dass eine Änderung unserer Sicht auf die Natur die einzige Möglichkeit ist, unseren wunderschönen Planeten vor der menschengemachten Zerstörung zu bewahren. Auch wenn Sie die völlig utopische Annahme treffen, dass die Regierungen und Unternehmen überall auf der Welt morgen die CO2-Emission drastisch senken, beendet das den unwiderruflichen Verbrauch anderer Ressourcen der Natur? Beendet das die Zerstörung unserer Böden, die Verschmutzung unseres Wassers, das Artensterben? Diese beispiellose Zerstörung ist das Resultat des systemimmanenten Wachstums der Wirtschaft. Und dieses Wachstum ist wiederum das zwingende Ergebnis unseres Strebens nach mehr Besitz und nach immer müheloserem und unterhaltsamerem Leben. Wo kommt dieses Streben her? Es ist ein Kind unserer Denkweise: unserer Vorstellung vom glücklichen Leben, der Betrachtung der Natur als untergeordnet, der Annahme, dass die Welt ein Haufen Materie ist, dass die Natur dafür da ist, unsere materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Unser rein materialistisches Weltbild führt zur Zerstörung der Natur. Es infrage zu stellen ist die einzige wirklich wirksame Herangehensweise an den Naturschutz.
Continentia: Welches Weltbild postuliert die Spirituelle Ökologie?
Alan P. Stern: Sie geht von der tief liegenden Einheit allen Lebens aus. In allem Leben gibt es eine Kraft, die nicht auf die bloße Materie zurückgeführt werden kann. Diese Kraft ist heilig. Deswegen ist auch jedes Leben heilig. Natürlich müssen wir essen, im Wald spazieren und Häuser bauen. Dabei wird immer auch Leben zerstört. Aber wir sollen diese Zerstörung auf ein Minimum begrenzen. Wir sollen das grundsätzliche Anrecht aller Tiere und Pflanzen zu leben als ein Kriterium für unsere Entscheidungen einbeziehen.
Nehmen wir das Essen: Heute ist der Preis des fertigen Produktes im Supermarktregal ausschlaggebend. An die Zerstörung des Bodens, an das Bienensterben denken wir nicht. Das zweite Kriterium ist ein angenehmer Reiz auf der Zunge. Ob dafür Tiere ihr Leben im Gefängnis, in Enge verbringen mussten, interessiert uns nicht.
Dazu muss man wissen, dass das Empfinden dieses Reizes völlig subjektiv und damit eingebildet ist. Es ist das Ergebnis der Gewöhnung unserer Sinnesorgane. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich habe mal 18 Monate lang kein Salz gegessen. Das war alles andere als einfach, weil zu fast allen fertigen Lebensmitteln Salz beigemischt wird. Sogar zu Süßwaren. Also musste ich mein eigenes Brot backen und das Gemüse selbst vorbereiten. Nach einer Umgewöhnungsphase hat meine Zunge ungeahnte Geschmacksnuancen in einfachsten Speisen wie gekochten Kartoffeln oder roter Bete entdeckt. Ich empfinde heute gesalztes Gemüse als Zumutung – das Salz tötet doch 80 % vom Eigengeschmack der Speisen, besonders wenn sie strikt biologisch angebaut wurden. Unsere Vorstellung von gutem Essen ist nichts als Ergebnis der Gewöhnung – sie existiert nur in unserem Kopf.
Und warum greifen viele zum billigsten Essen? Wahrscheinlich, weil sie das Geld für ein neues Gadget oder für einen Urlaub in der Karibik brauchen. Diese Wünsche sind doch auch nur das Ergebnis unseres Denkens, Einbildung, unserer Vorstellung vom glücklichen Leben. Das ist alles nur in unserem Kopf! Wenn wir also anfangen, anders zu denken, wenn wir beispielsweise beim Einkaufen auch die Zerstörung des Lebens durch Pestizide oder das Leiden der Tiere beachten, verändert sich unser Verhalten und damit seine Folgen. Menschen sind trotz des Jahrhunderte andauernden exzessiven Materialismus und egoistischen Nutzendenkens von Grund auf moralische Wesen. Wenn man ihnen das Leid der Natur vor Augen führt, werden sie anders entscheiden, anders leben. Diese geänderte Lebensweise kann der Natur helfen, sonst nichts. Davon bin ich überzeugt.
Unsere Wünsche resultieren aus unserer materialistischen Kultur und sind eingebildet. Durch anderes Denken und andere Erfahrungen können sie sich ändern, sodass sie kein Leid und keine Zerstörung mehr verursachen.
Continentia: Wie kann man sich die Initiativen der Spirituellen Ökologie konkret vorstellen?
Alan P. Stern: Wenn das Übel in unseren Annahmen, in unserem Weltbild liegt, muss man auch dort ansetzen. Deswegen ist Aufklärung die erste konkrete Maßnahme. Wir als Gesellschaft, als Kulturkreis haben uns an der sturen materialistischen Denkweise festgebissen. Wenn jemand einige der mechanistischen, darwinistischen, soziologischen und überhaupt wissenschaftlichen Thesen infrage stellt, machen alle um ihn einen großen Bogen. Aber auch die überzeugten Materialisten müssen doch zugeben, dass diese Einstellung zur Natur unseren Planeten in Gefahr gebracht hat. Also liegt die Lösung im Umdenken. Die Betrachtung allen Lebens als etwas Heiliges ist eine vernünftige Alternative.
Continentia: Das Wort „spirituell“ im Namen der Spirituellen Ökologie bedeutet also, dass man die Natur als etwas Heiliges betrachtet. Wie soll man sich das in der Praxis vorstellen?
Alan P. Stern: Zuerst müssen wir ein weit verbreitetes Missverständnis über die Spiritualität aufklären. In unserer materialistischen Kultur wird dieser Begriff meistens als etwas Magisches, Irreales, Verträumtes – im Grunde genommen als Spinnerei – betrachtet. Die Kulturen, die sich mit den feineren Energien des äußeren Universums beschäftigt haben, die im Bewusstsein im Inneren des Menschen gearbeitet haben, können nur zu dieser Betrachtung mit den Achseln zucken. Spiritualität ist etwas Bodenständiges, Pragmatisches.
Was ist für uns als Mensch, der diese wertvolle Gelegenheit des Lebens bekommen hat, am wichtigsten? Ein großes Auto? Eine herausragende gesellschaftliche Position? Urlaub in der Karibik? Das alles wird doch vergehen. Nach jeder Freude der Sinne, nach jeder Begeisterung für einen Freund oder Anerkennung kommt irgendwann Schmerz und Enttäuschung. Die kultivierten Menschen des Orients wenden sich deswegen dem zu, was unveränderlich ist und sie nicht enttäuschen kann. Was ist nun pragmatischer?
Spiritualität ist etwas Bodenständiges und Praktisches. Sie bedeutet Arbeit, die der Mensch in seinem inneren Universum errichtet. Sie resultiert in aufrichtigem Leben, Selbstlosigkeit, Rücksicht und Verantwortung.
Nehmen Sie die Philosophie und die Praxis des Yogas – einer bis in die prähistorischen Zeiten reichenden Wissenschaft des inneren Universums des Menschen. Der Yoga besteht aus dem moralisch makellosen Verhalten und aus harter Arbeit am eigenen Geist, um Selbstkontrolle und Freiheit zu erlangen. Das ist das genaue Gegenteil des Träumens. Es ist unser westlicher Versuch, Glück und Erfüllung in vergänglichen Dingen zu finden, das eine Selbsttäuschung, Träumerei ist.
Continentia: Bedeutet also die Spirituelle Ökologie Arbeit an sich selbst?
Alan P. Stern: Diejenigen, die die Spirituelle Ökologie aktiv vorantreiben, die den anderen als Beispiel dienen wollen, werden wahrscheinlich auch praktisch spirituell, also sie werden an eigener spiritueller Entwicklung arbeiten. Aber die Spirituelle Ökologie als neuer Zugang zum Umweltschutz kann deutlich breiter werden. Zunehmend viele Menschen sind mit dem hiesigen Lebensentwurf nicht einverstanden. Geld verdienen, sich einen Haufen Annehmlichkeiten leisten sind für sie als Lebensentwurf zu wenig. Diese Menschen merken irgendwann, dass das Weltbild unserer materialistischen Wissenschaft nur eine Facette ihrer inneren Wirklichkeit erklärt. Sie entwickeln eine Sehnsucht nach etwas Heiligem, etwas Überdauerndem, zutiefst Eigenem. Das Essen, Trinken, Einkaufen, In-Urlaub-Fahren und Ins-Konzert-Gehen reicht ihnen nicht aus. Für sie ist die Idee, dass die Natur eine eigenständige moralische und spirituelle Bedeutung besitzt, überzeugend. Diese Menschen werden sich dieser Ökologiebewegung anschließen.
Sie haben nach der Praxis der Spirituellen Ökologie gefragt. Nehmen wir an, Sie protestieren gegen den Nordseetunnel oder gegen Waldrodung. Sie argumentieren mit dem Verlust des Lebensraums für seltene Tiere oder mit der Luftqualität und Sie unterliegen letztlich den Interessen der Wirtschaft und des Kapitals. Nun stellen Sie sich vor, dass Sie Ihren Kampf um die Argumentation ergänzen, dass wir kein Recht haben, Lebensräume zu vernichten, weil sie Leben beherbergen, das uns nicht gehört, dass dieses Leben ein grundsätzliches Existenzrecht besitzt, dass hinter diesem Leben eine höhere Ordnung steht, weil es nicht nur materiell, sondern auch göttlich ist. Ihre Argumente wiegen jetzt schwerer im Vergleich zum bloßen Recht einiger, ihre Gier oder Bequemlichkeit zu befriedigen. Sie berühren mit dieser Argumentation deutlich mehr Herzen. Für die staatliche Verwaltung, die die Entscheidung trifft, verändert sich die Begründung von rein wirtschaftlich zu moralisch. Und wenn Sie ein Volksbegehren starten, erhalten Sie mehr Zustimmung. Deswegen halte ich die Aufnahme der spirituellen Dimension in die ökologische Bewegung für notwendig.
Die Spirituelle Ökologie stellt die moralischen Aspekte der gesellschaftlichen Entscheidungen, die die Natur betreffen, in den Vordergrund. Ihre Argumente sind deswegen deutlich gewichtiger.
Continentia: Wo kann man mehr über dieses neue Denken über die Nachhaltigkeit und den Umweltschutz erfahren?
Alan P. Stern: Bei denjenigen, die die praktische Spiritualität seit Generationen, seit Jahrtausenden leben. Sie finden sie in den Organisationen, die die Philosophie des Vedanta im Westen verbreiten, bei Papst und bei den christlichen Mystikern, bei den indigenen Völkern, im Islam bei den Sufis und Philosophen, bei den Buddhisten, bei den alten Religionen Chinas und Japans. Es gibt wirklich genug Wissen darüber und ausreichend Autoritäten. Was man dabei allerdings nie vergessen darf, ist, dass Spiritualität in unserem Inneren stattfindet. Sie ist in ihrer Vollkommenheit in unserer eigenen Seele bereits da. Wir können bei anderen Inspiration suchen, von ihnen einen Anstoß erhalten, aber die wirklichen Antworten können wir nur in unserem eigenen inneren Universum finden.
Unser kleiner Planet ist eine heilige Oase des Lebens in den Weiten des Kosmos. Unser menschliches Leben ist ein Geschenk, das wir für eigene Entwicklung und für Gutes für andere Menschen und alle Lebewesen nutzen sollen. Unsere wichtigste kulturelle und zivilisatorische Aufgabe heute ist, das vom Materialismus zugenagelte Tor zu unserem inneren Universum aufzubrechen. Der Rest wird dann wie von selbst folgen.
Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.
Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
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