Kultur und Zivilisation leben auch von Vorbildern und Lebensgeschichten. Den heute Heranwachsenden werden die Reichen, Schönen und Frechen als Vorbilder präsentiert. Für eine lebenswerte, harmonische Welt und eine vitale Kultur brauchen wir dringend andere Vorbilder.
Sokrates – ein Vorbild für heutige Welt
Sokrates war ein Inbegriff eines geläuterten Verstandes, ein Beispiel für die Kontrolle über die Organe des Geistes. Sie war die Quelle seiner Geistesgegenwart und Präzision im Denken, seiner Gelassenheit und inneren Ruhe. Seine Selbstbeherrschung stand im krassen Gegensatz zum Bestreben seiner Zeitgenossen, die den feinen Sinnesgenuss und Selbstdarstellung lebten. Sein Bemühen galt der Reinheit auf allen drei menschlichen Ebenen: der des Körperlichen, des Geistigen und des Spirituellen. Er praktizierte sie, lehrte sie und erhob sie zum Ideal. Ihr äußerer Ausdruck war die Schlichtheit seiner Lebensweise und die Aufrichtigkeit im Denken und Handeln. Er begnügte sich mit dem einfachsten Essen und mit der simpelsten Kleidung. Er nahm von niemandem Geld an und machte sich nichts aus materiellem Wohlstand. Er ragte mit seiner Weisheit gerade deswegen heraus, weil sie auf dem Fundament seines Charakters erwachsen war. Diejenigen, die ihn bloß als Meister der Rhetorik und des logischen Denkens beschreiben, missverstehen ihn völlig. Seine Sache war nicht, philosophische Theorien aufzustellen oder dialektische Methoden zu entwerfen – er sprach über die Wahrheit aus der Reinheit seines Geistes und Herzens. Zu dieser Wahrheit hatte er (wie er es selbst wiederholt sagte) den direkten Zugang – er lebte nämlich in der Gegenwart des Göttlichen (des Daimonions).
Sokrates steht für die Wahrheit, für das Dienen, für die Tugend. Sein Anliegen war die geistige und moralische Entwicklung der Menschen. In seinem Vorgehen war er ausgesprochen praktisch. Der Mensch war für ihn der eigentliche Beweis der Existenz Gottes, wenn er sich aufrichtig bemühe, das „Schöne und Gute“ (wie er es nannte) zu verwirklichen und der Stimme des Gewissens zu folgen. Wenn der Mensch allerdings hinter Geld und Ansehen her sei und die Vernunft, die Wahrheit, die Läuterung der Seele vernachlässige, sich also nicht um seine Vervollkommnung bemühe, vergeude er sein Leben. Ohne Selbstdisziplin, ohne eine lebenslange Arbeit am eigenen Charakter bleibe diese Vollkommenheit unerreichbar.
Sokrates steht nicht nur für den Dienst an seinen Nächsten, seinen Schülern und Freunden, sondern an der ganzen Gesellschaft. Er stellte die Regeln des Rechts und des zwischenmenschlichen Umgangs über den Individualismus. Er lehrte immer und immer wieder, dass man bei seinen Entscheidungen nicht an den eigenen Vorteil, sondern an das Wohl der Gemeinschaft denken solle. Ego, Stolz und Hochmut machten den Menschen nicht nur für das Gemeinwohl, sondern auch für sein eigenes Wohl blind. Wer sich selbst nicht kenne, sei ein Tor. Mangel an Selbstbeherrschung mache uns zu Sklaven unserer sinnlichen Lüste und unseres Egos. Ohne Selbstdisziplin unterschieden wir uns nicht von den Tieren und könnten Gut und Böse nicht auseinanderhalten.
Sokrates plädierte für ein einfaches Leben und damit gegen die Gier, für das Wachsen in Menschlichkeit und damit gegen die Willkür der Einbildung, der Eitelkeit und der Emotionen. Wir haben ihn dafür zum Tode verurteilt. Das ist der Sündenfall, der am Anfang unserer westlichen Zivilisation steht. Danach konnten wir uns ungestört den Annehmlichkeiten widmen und dem Egoismus verschreiben, auf Kosten der menschlichen Vervollkommnung. Aus diesem Sündenfall haben wir uns nie erhoben. Als 400 Jahre später Christus kam, fuhren wir damit fort, indem wir im Laufe der Jahrhunderte aus seiner Lehre eine Karikatur machten: Christus sagte, wir sollen unseren gesamten Besitz den Bedürftigen geben und uns unserer inneren Vervollkommnung widmen – wir haben Geld verdient und die Verantwortung für die Reinheit unserer Seelen ihm überlassen. Ohne den Sündenfall an Sokrates für uns neu zu klären, werden wir unsere Zivilisation nicht retten.
Was würde Sokrates heute sagen, wenn er in London, Wien oder Hamburg lebte? Was würde er tun?
Er würde feststellen, dass unsere Zivilisation auf dem Kopf steht, dass unser Leben auf Gier und Egoismus aufgebaut ist. Er wäre sicher der Meinung, dass wir die menschlichen Grundwerte aus Bequemlichkeit geschwächt haben und dass wir unsere Kultur vernachlässigen. Er würde für die Verantwortung der Einzelnen für das Gemeinwohl und für schlichteres Leben plädieren. Gewiss würde er sich für eine grundsätzliche Veränderung in der Bildung und in der Erziehung einsetzen. Er war überzeugt, dass, wenn der Mensch das „Schöne und Gute“ kennt, er von selbst danach zu streben anfängt. Also wäre er dafür, die moralischen Werte, die Läuterung des Geistes und des Herzens und das gute Leben, individuell wie in der Gesellschaft, zum ersten Ziel des Bildungssystems zu machen. Er würde uns auffordern, an unserem Charakter zu arbeiten und unseren Kindern dabei zu helfen.
Was würde er konkret tun? Er würde die Wahrheit jeder und jedem, gefragt oder ungefragt, sagen. Er würde besonders die Regierenden, die Verantwortlichen, die Intelligenz, die Eliten, die Entscheider aufsuchen und ohne Unterlass versuchen, sie zum Umdenken zu bewegen. Da er bei seinem Handeln ausgesprochen praktisch war, hätte er bestimmt die Möglichkeiten der modernen Medien und des demokratischen Staates voll ausgenutzt. Außerdem würde er nicht nur die Wahrheit beim Namen nennen, er würde sie uns auch vorleben. Vermutlich würde all sein Wirken in einer gesellschaftlichen Bewegung münden.
Dieser Text stammt aus dem Buch des Autors: „Redesigning Civilization; Wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.
Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
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