Wir haben Pflichten gegenüber der Natur, das heißt gegenüber Tieren, Pflanzen, Landschaften, Ökosystemen: unserem ganzen lebenden Zuhause.
Dharma
Die alte Kultur Indiens hat dieses wunderschöne Konzept des Dharmas. Dharma ist eine zu breit gefasste Idee, um sie mit nur einem Wort zu übersetzen. Dharma bedeutet im Kern eine besondere Einstellung zur Welt und zu sich selbst. Sie ist von Pflichtbewusstsein geprägt und erlegt uns Verantwortung für alles, womit wir im Leben in Berührung kommen, auf.
Dharma erwächst im Menschen, wenn er aus freiem Willen anerkennt, dass es wichtigere Regeln und ein bedeutungsvolleres Gesetz in der Welt gibt, die seine egozentrischen Überzeugungen und sein egoistisches Streben überbieten. Nachdem er das getan hat, versucht der Mensch dieses Gesetz zu begreifen und in seinem täglichen Leben zu befolgen.
Dharma bezeichnet außerdem ein moralisches Leben, ein Leben der Selbstdisziplin und Rechtschaffenheit – ein zielorientiertes, umsichtiges Leben. Dharma ist der Kern der vedischen Ethik.
Dharma ist ein Teil der vedantischen Ethik, die deutlich vielschichtiger und tiefgründiger als die menschenzentrierte und den gesellschaftlichen Nutzen fokussierende westliche Moral ist.
Ökologischer Dharma
Aus einer solchen Einstellung zur Welt erwächst ganz automatisch das Gefühl der Verantwortung für alles Leben um uns herum. Wenn wir umsichtig sind, denken wir bei allem, was wir tun, bei allen unseren Entscheidungen nicht nur an unseren eigenen Vorteil, sondern auch an das Wohlergehen der Natur. Die Karotten im Supermarkt sind billiger, aber wenn ich sie im Biogeschäft kaufe, schütze ich das Leben des Bodens, auf dem sie angebaut werden. Mich ins Auto zu setzen, ist bequemer, aber wenn ich zu Fuß zum Bäcker gehe oder aufs Fahrrad steige, belaste ich die Biosphäre nicht. Ich meine in meiner Gewohnheit vielleicht, ein Steak essen zu wollen, aber wenn ich beim Gemüse bleibe, schütze ich die Biodiversität und verursache kein Tierleiden. Die Summe solcher und ähnlicher Entscheidungen macht das Leben jedes Einzelnen von uns und der Gesellschaft aus.
Auch die Entscheidungen der Unternehmenslenker, der Regierungsbeamten oder prominenter Meinungsbildner können entweder nur ihren eigenen Ideen, ihrem Eigennutz und ihren individuellen Vorstellungen darüber, was richtig und was falsch ist, folgen oder ein breiteres, auch die Natur umfassendes moralisches Gesetz einbeziehen. Im zweiten Fall sind die Chancen dafür, dass sie für das Gemeinwohl entscheiden, deutlich höher. Wenn sie bei ihrem Handeln bewusst ihrem ökologischen Dharma folgen würden, schonten sie unaufgefordert das nichtmenschliche Leben.
Alle diese Entscheidungen bestimmen über Leben und Tod, über mehr oder weniger Leiden, über Schönheit oder Hässlichkeit der Welt, in der wir leben. Vorausgesetzt, wir treffen sie! Das Gros von uns trifft sie nämlich gar nicht – wir folgen einfach blind unseren Gewohnheiten, unseren festgefahrenen, eigenwilligen Überzeugungen oder denken an unseren egoistischen Nutzen. Das ist das Gegenteil des Dharmas.
Wir sollen die Biosphäre nicht nur deswegen retten, weil das gut für uns Menschen ist. Es ist auch moralisch richtig. Die Ökobewegung würde an Gewicht gewinnen, wenn sie den Öko-Dharma zum Thema machen würde.
Der ökologische Dharma ist also eine Einstellung zur Natur, die von Verantwortungsbewusstsein geprägt ist. Weil der Mensch freien Willen besitzt, erwachsen aus seinen Entscheidungen Pflichten – auch den Tieren, Pflanzen und allem, was lebt, gegenüber. Ökologischer Dharma bedeutet, diese Pflichten anzuerkennen. Wenn wir das tun, folgen wir nicht einfach blind den äußeren Regeln und Verboten, sondern unserem autonomen Willen mit dem Ziel, ein gutes, rechtschaffenes Leben zu führen. Wenn wir nach den Regeln des ökologischen Dharmas leben, bereichern und verschönern wir nämlich nicht nur die äußeren, sondern auch unsere inneren Landschaften.
Öko-Dharma und der lebende Planet
Der Mensch ist ein Produkt der Evolution des Lebens auf unserem lebenden Planeten. Diese Evolution ist wiederum das Ergebnis der Gesetze, die unsere menschengemachten Gesetze in ihrer Bedeutung übersteigen. Der Mensch nimmt innerhalb dieser Evolution des Lebens nichtsdestotrotz einen speziellen Platz ein, weil seine Intelligenz ihm ermöglicht, das gesamte Leben der Erde zu beeinflussen – zum Guten oder zum Schlechten. Daraus erwachsen eine besondere Verantwortung und ein besonderer Dharma. Das Wort selbst bedeutet in Sanskrit „das, was die Schöpfung hält“. Unsere Pflicht ist es, die Evolution des Lebens auf unserem Blauen Planeten zu stützen. Wenn wir die Vielfalt des Lebens zerstören, verstoßen wir grob gegen den ökologischen Dharma.
Ohne das Bewusstsein für unsere Pflichten gegenüber der Natur, ohne den ökologischen Dharma, werden wir die Zerstörung der Biosphäre nicht anhalten. Ohne unsere Lebensweise den Gesetzen des Lebens unterzuordnen, also ohne den ökologischen Dharma, haben wir als Zivilisation auf diesem Planeten keine Zukunft. Mehr noch: Ohne eine grundsätzliche Veränderung unserer menschenzentrierten Ethik, also wiederum ohne den ökologischen Dharma, können wir auch als Einzelne nicht wachsen, weil Menschen, die gegen ihren Dharma verstoßen, mit der Zeit moralisch verkümmern.
Unsere westliche Ethik ist zu einseitig auf den Menschen gerichtet. Durch eine gesellschaftliche Diskussion über den Öko-Dharma können wir die Natur in unsere Moral einschließen.
Wie integrieren wir den ökologischen Dharma in unsere Kultur?
Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass ohne grundsätzliche Veränderung unserer Moral, der Annahmen unserer Kultur, unseres Welt- und Menschenbildes – also kurz gesagt: ohne Veränderung in unserem Denken – die Rettung und Wiederherstellung der Biosphäre nicht möglich sein wird. Wir müssen zuerst die Fehler unserer Kultur sehen, um sie korrigieren zu können.
Wie verändert man die Moral? Wie kann man gezielt die Kultur beeinflussen? Durch eine gesellschaftliche Diskussion, durch andere Geschichten und Bilder, die von klugen Menschen erzählt und vervielfältigt werden, durch ein Bildungssystem, das gänzlich andere Ziele verfolgt und andere Werte vermittelt, durch Beispiele, die von der Gesellschaft und vom Staat unterstützt und gefördert werden. Die Kultur ist das Sediment dessen, was wir denken und tun, worüber wir sprechen und lesen, wofür uns die anderen belohnen und bewundern.
Kann die Kultur verändert werden? Aber selbstverständlich. Das geschieht ununterbrochen. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass wir heute in einer anderen Kultur als vor 40 Jahren leben. Sie ist nicht aus den Wolken gefallen – wir haben sie zum Teil bewusst erzeugt und zum Teil zugelassen, was auch ein Ergebnis unseres Denkens und Handelns war.
Unser heutiges Weltbild ist das Resultat dessen, was uns die Wissenschaft über die Welt erzählt. Unsere Werte sind das Resultat dessen, was uns in den Schulen oder in den Medien vermittelt wird. Unsere Lebensziele sind das Resultat dessen, was vom Staat gefördert und von der Gesellschaft als normal angesehen wird.
Nun wird die Wissenschaft von Wissenschaftlern gemacht. Die Bildung wird von Lehrern und Beamten gemacht. Die Entscheidungen des Staates werden von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten gemacht. Was von der Gesellschaft als normal und richtig angesehen wird, wird von jedem von uns beeinflusst. Es sind alles Menschen, und sie können auch anders.
Dass das nicht einfach sein wird, ist klar. Wir haben jedoch keine Wahl. Oder wollen wir unseren Enkeln inmitten einer zerstörten Welt und leidenden Menschheit erklären: „Weißt du, Schatz, es war einfach zu schwer für mich; ich wollte nicht die Erste sein; ich wollte, dass deine Mutter und dein Vater ein leichtes Leben haben; es war zu bequem, nichts zu tun …“?
Dharma ist der Gegenpol zu solcher Lebenseinstellung. Dharma bedeutet, uns unseren Pflichten zu stellen. Dharma heißt, das Gute, das in unserer Reichweite ist, zu stützen. Wenn wir dies tun, wachsen und reifen wir als Menschen. Reife Menschen sind glücklicher.
Eine Portion Demut würde unserer westlichen Kultur guttun.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Dharma immer die Einstellung des Einzelnen ist, nicht des Kollektivs: nicht der Familie, nicht der Belegschaft, nicht der Nachbarschaft, nicht der Behörde und damit nicht der anderen. Sich nach links und rechts umzuschauen, bringt hier nichts. Jede und jeder von uns steht alleine und nackt vor Gott, vor der Geschichte, vor ihrem und seinem Gewissen – wie immer Sie das, was größer als unsere egozentrischen Überzeugungen und unser egoistisches Streben ist, nennen wollen.
Auch die Natur, das Leben in seiner Gänze, ist größer als wir. Dies anzuerkennen ist der erste Schritt auf dem Weg, den ökologischen Dharma im Westen, in Europa, in Deutschland einzubürgern. Er ist nicht nur eine Bereicherung für unsere Kultur. Er kann uns das Leben retten.
Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.
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Du schreibst zurecht, dass Dharma der Kern der vedischen Ethik ist. Ich lese gerade ein Buch von Swami Sivananda (dem Meister von Swami Chidananda) mit dem Titel „Ethical Teachings“. Der Autor schreibt: „Duties are opportunities given to man to annihilate his separate self and develop a broad, universal outlook on life.” Das ist eine wunderschöne Unterstreichung des Dharmas als der Grundlage der Moral.
Unsere Pflichten sind nicht immer nett. Oft würden wir uns gerne vor ihnen drücken. Viele von uns versuchen es auch. Was uns Swami Sivananda sagt, ist, dass gerade die unangenehmen Pflichten Gelegenheiten sind, um unseren Egoismus, unseren Hochmut, unser Ich-Bewusstsein zu überwinden. Ohne diese Überwindung ist das Wachsen in unserer Menschlichkeit nicht möglich. Das sollen wir uns…