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Alan P. Stern

Landkarte der zivilisatorischen Krise

Aktualisiert: 9. Jan.


Um die Krise unserer Zivilisation zu durchschauen, müssen wir uns von der Kakofonie der Medien und der Logik der Tagesnachrichten lösen. Um die wirklichen Ursachen unserer Probleme zu sehen, ist ein Blick auf das gesamte System unserer modernen Zivilisation notwendig.


Landkarte der zivilisatorischen Krise

Liste unserer zivilisatorischen Probleme


Wenn ich ein komplexes System zu verstehen versuche, erstelle ich gern eine Art Landkarte, die das System ähnlich einer Landschaft aus der Vogelperspektive vor Augen führt. Sie versucht, die wichtigsten Elemente des Systems in Relation zueinander aufzuzeigen. Sie kann helfen, das richtige Verständnis des Systems in seiner Gänze zu erlangen, und ergänzt andere Analysen.

 

Auf der Suche nach dem Verständnis unserer zivilisatorischen Krise habe ich mal für mich eine solche Karte gekritzelt. Jetzt kam mir der Gedanke, dass sie auch für andere von Nutzen sein könnte. Deswegen liste ich in diesem kurzen Artikel die Elemente der Karte der zivilisatorischen Krise für Sie auf.

 

Das Verständnis der Dynamiken heutiger Welt wird immer schwieriger. Wir verlieren den Durchblick. Wir werden mit Unmengen an Fakten und Urteilen konfrontiert, und je mehr Informationen und Analysen uns angeboten werden, umso verwirrter fühlen wir uns am Ende. Gleichzeitig gibt es in der öffentlichen Kommunikation zunehmend viele unwahre und noch mehr nur teilweise korrekte Informationen sowie falsche und noch mehr oberflächliche Analysen. Eine Strategie unserer Psyche, damit umzugehen, ist, sich an eine der Interpretationen, an eine bestimmte Sicht der Dinge zu klammern. Man gewinnt dadurch das Gefühl, einen Halt zu haben. Für eine gesunde Psyche ist dieses Gefühl unentbehrlich. Deswegen ist es entscheidend, dass man den Halt nicht an der Oberfläche der Dinge findet.

 

Was sind die wichtigsten Krisen, mit denen wir konfrontiert sind?

Hier ist die Liste unserer zivilisatorischen Probleme:


  • Eigentumsrechte an Produktions- und Kommunikationsmitteln

  • Akkumulation des Kapitals, des Reichtums und der Macht in den Händen weniger


  • kränkelnde Demokratie

  • Regierungen, die nicht die Interessen ihrer Bevölkerungen vertreten


  • wachsende Ungleichheit und Ungerechtigkeit innerhalb der westlichen Länder

  • schleichende Verarmung der Menschen

  • wachsende Ungerechtigkeit zwischen den Ländern weltweit


  • US-Imperialismus und US-Hegemonie

  • Kriege, wachsende internationale Spannungen, Aufrüstungsspirale


  • Manipulation der öffentlichen Meinung …

  • bei wachsendem Einfluss der Medien

  • fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft

  • Aufstieg des Faschismus

  • moralische, intellektuelle und kulturelle Rückentwicklung in den westlichen (und vom Westen beeinflussten) Gesellschaften


  • Zerstörung der letzten intakten Ökosysteme der Welt

  • Artensterben und kranke Ökosysteme

  • Klimaerwärmung


Die Reihenfolge dieser Probleme ist nicht beliebig, sie folgt ihren Ursachen. Der Kern der Misere ist, dass die Besitztitel, der Reichtum und der Einfluss in den Händen weniger sind. Diese wenigen setzen dann ihre eigenen Interessen durch. Das erzeugt eine Dynamik, die den Reichtum und die Macht wiederum weiter konzentriert. Sie verstärkt noch zusätzlich die Wirkung der Regeln der Wirtschaft, die sowieso derart gestaltet wurden, dass die Reichen immer reicher werden. Beides zerstört in Folge unsere Demokratie, treibt die Spannungen an, manipuliert die Bürger und tötet das Ökosystem der Erde.


Warum ist der Besitz von Produktionsmitteln entscheidend?


Fangen wir am Ende der Liste an. Die Klimaerwärmung ist das Ergebnis einer übermäßigen Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas. Die fossilen Brennstoffe waren und sind immer noch der Motor der industriellen Produktion und ein Nebenprodukt der globalisierten Märkte und der modernen Mobilität. Außerdem ist der CO2-Ausstoß das Resultat des rapiden Bevölkerungszuwachses. (Der Zuwachs der Weltbevölkerung ist ein Thema für sich und zu komplex für diese sehr kurze, skizzenhafte Betrachtung. Hier reicht es, festzustellen, dass er einfach die Emission der Treibhausgase erhöht.)

Die Wirtschaft verfolgt das Ziel der Erzeugung von objektiv nicht notwendiger Nachfrage, weil Wirtschaftswachstum eine der Voraussetzungen des kapitalistischen Systems ist. Das Resultat ist die übermäßige Produktion und Logistik und dadurch erhöhte Treibhausgasemissionen. Wie sehr die Wirtschaft der Logik der Profitmaximierung ungeachtet der ökologischen und sozialen Kosten unterworfen ist, können wir heute sehr deutlich sehen: Es werden immer noch Billionen in fossile Brennstoffe investiert, obwohl man weiß, dass dies zu einer Klimakatastrophe führen wird.


Die Prämissen des kapitalistischen Wirtschaftssystems (das Wachstumsparadigma, die Suche nach den niedrigsten Kosten) treiben die Emission der Treibhausgase in die Höhe. Diese Prämissen zu ändern bedeutet, die Eigentumsverhältnisse neu zu gestalten.

Die Zerstörung der letzten intakten Ökosysteme der Welt resultiert aus dem Hunger der Wirtschaft nach Ressourcen. Für die Fleischproduktion werden Urwälder gerodet, für die Produktion von Geräten und Anlagen werden ganze Landstriche zerstört, um Rohstoffe zu gewinnen. Die noch verbliebenen Ökosysteme werden durch Waldsterben, Pestizide, Herbizide und Kunstdünger, Ausbau der Städte und der Infrastruktur weiter geschwächt und getötet. Sie sind zum großen Teil ein Ergebnis der wachsenden Produktion und der Erhöhung des Konsums, also des Wirtschaftswachstums.

 

Die öffentliche Meinung wird manipuliert bei dem Versuch, zusätzliche Nachfrage zu schaffen und Macht aufrechtzuerhalten oder zu erlangen. Der entscheidende Faktor in diesem Spiel ist Geld. Es waren und sind also vor allem die Reichen und die reich Werdenden, die hinter dieser Manipulierung stehen. Die zweite Gruppe sind diejenigen, die nach der Macht streben. Sie können es tun, weil die Macht von den Reichen bereits konzentriert wurde.

Eines der Resultate ist die fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft und der Anstieg des Faschismus. Die omnipräsenten und manipulierenden Medien neben der instrumentalisierten und kaputtgesparten Bildung sind auch die Hauptgründe der heute immer offensichtlicheren moralischen, intellektuellen und kulturellen Rückentwicklung der Gesellschaft.

 

Betrachten wir nun die so beunruhigende Zunahme der internationalen Spannungen und Kriege. Die mit Abstand größte hier wirkende Kraft ist die Politik der USA. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es ein erklärtes Ziel der US-Regierungen, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der USA weltweit durchzusetzen. Sie benutzten und benutzen auch heute ungemindert die Mittel der Manipulation und des wirtschaftlichen Drucks, sie stürzen Regierungen oder unterstützen finanziell und militärisch Regierungen und Regime, die von den USA als vorteilhaft gesehen werden, und beginnen oder provozieren Kriege. Dabei werden die Interessen der lokalen Bevölkerungen missachtet. Diese Politik führt die Welt heute erneut an die Schwelle der atomaren Vernichtung. Hinter der hegemonistischen Politik der USA stehen wirtschaftliche Interessen, Interessen derer in den Vereinigten Staaten, die ihren enormen Reichtum weiter vermehren wollen.

 

Nach dem Wohlstandzuwachs für alle in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren und der neoliberalen Umgestaltung des Finanzsektors und der Wirtschaft folgend sind die westlichen Gesellschaften mit einer wachsenden Ungleichheit und Ungerechtigkeit konfrontiert. Seit der Rettung der Spekulationsbanken in Jahr 2008 werden die Menschen in den USA und Europa, auch in Deutschland, immer ärmer. Die sozialen Dienstleistungen schrumpfen und die Infrastruktur schwächelt. Das ist die Folge der Politik der westlichen Regierungen (auch der deutschen), die dem Vermehren des Reichtums Vorzug geben. Gleichzeitig findet weiterhin ein Geldtransfer aus den armen in die reichen Länder der Welt statt, wobei den armen Ländern ihre Ressourcen genommen werden und ihr soziales und wirtschaftliches Gleichgewicht unter die Räder kommt.

 

Weil die Regierungen des Westens (auch die deutsche) die Interessen des Kapitals und der finanziellen Spekulation bevorzugen, müssen sie auch zunehmend die Demokratie behindern, um eine Politik, die nicht im Interesse der Bevölkerungen ist, durchzusetzen. Das findet ihren Ausdruck in der wachsenden Entfernung der großen politischen Parteien von den Bürgern, in der zunehmenden Manipulation der öffentlichen Meinung und in der allmählichen Abschaffung der wenigen verbliebenen basisdemokratischen Möglichkeiten, auf die Entscheidungen der Regierungen Einfluss zu nehmen.


Kann man nicht beides haben: den Reichtum und die Demokratie? Die Regeln des Systems zwingen Unternehmen dazu, ihren Reichtum auszubauen. Um den Reichtum über eine bestimmte Größenordnung hinaus ausbauen zu können, müssen Firmen (und ihre Eigentümer) Macht anhäufen. Diese Dynamik hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, bei dem die Idee der Selbstbestimmung der Nichtreichen (also die Demokratie) dieser Machtanhäufung im Wege steht. Das ist der eigentliche Grund der politischen Entwicklungen in den USA und überall in der Welt. Die Demokratie kann innerhalb dieses Systems nicht überleben.


Wir können die Demokratie für eine Umgestaltung unserer Zivilisation nutzen, wenn wir anfangen, uns einzumischen. Wir müssen uns nur beeilen.

Alle diese Entwicklungen sind eine Folge des Prozesses der weltweiten Anhäufung des Reichtums und der Macht in den Händen weniger. In ihrer Anstrengung, ihren Reichtum zu vermehren, manipulieren sie die öffentliche Meinung und das politische System, provozieren Kriege, zerstören das soziale Gefüge und das Leben auf dem Planeten. Was ist aber der eigentliche Grund, warum sie es tun dürfen und damit so erfolgreich sein können? Es ist die Regel, die dem Kapitalismus (besonders in seiner neoliberalen Version) zugrunde liegt: das Recht, die Wirtschaft, das finanzielle System, ganze Landgebiete, die Infrastruktur, das Internet usw. zu besitzen. Weil dieses Recht als unantastbar betrachtet wird, wird der Reichtum der wenigen weiter vermehrt und mit ihm ihr Einfluss.



Puzzle mit Problemen der Zivilisation


Die Demokratie noch mal erfinden


Nur eine echte Demokratie, nur durchdachte Strukturen, die die Entscheidungen dem dẽmos übertragen, also Menschen, die von diesen Entscheidungen unmittelbar betroffen sind, kann unsere Zivilisation retten. Das betrifft die Wirtschaft genauso wie den Staat. Dazu gehört die Demokratisierung der Besitzverhältnisse von alldem, was die Gesellschaft für ihr Wohlergehen benötigt. Die Unternehmen könnten beispielsweise auch den Beschäftigten gehören oder die Banken dem demokratisch kontrollierten Staat. Wir müssen die Demokratie erneut erfinden und dabei die Fehler des heutigen zivilisatorischen Systems vermeiden.


Eine wirkliche Demokratie ist unsere Rettung. Nur wenn die Interessen der Menschen in Gemeinden, in Unternehmen, im Staat maßgeblich und direkt vertreten werden, werden die Entscheidungen des Staates und der Wirtschaft im Sinne der Bevölkerung getroffen.

Es ist ein Moment in der Geschichte, über den Ihre Enkelkinder in ihrem Geschichtsbuch lesen und sich fragen werden: „Haben die Menschen es nicht kommen sehen? Warum haben sie nichts dagegen unternommen?“ Wir haben keine andere Wahl, als das gesamte zivilisatorische System zu hinterfragen. Dafür brauchen wir einen generellen, einen grundsätzlichen Blick auf unsere Zivilisation, an dem Wirrwarr der Nachrichten und dem Tsunami der Meinungen vorbei. Dieser Wirrwarr ist existenzbedrohend. Er ist das, was das Geschichtsbuch Ihres Enkelkindes nicht vermitteln kann und die Frage danach, „wie es passieren konnte“, aufkommen lässt.

 

Es gibt noch einen zusätzlichen weisen Rat: Man sieht nur mit dem Herzen gut, wie Saint-Exupéry es so wunderschön gesagt hat. Und mit dem Gewissen. Und nur in der Stille, die in unserem inneren Universum wohnt. Denken Sie in dieser Stille nach, was richtig und was für Sie, für Ihre Nächsten und für die Gemeinschaft gut wäre. Das ist die geeignete Grundlage für unser Nachdenken über die Zukunft der Zivilisation. Erst der so verwurzelte Verstand führt uns richtig.


Die Nachrichtenflut und die ununterbrochene Medienpräsenz sind eine Falle. Sie halten uns in den Kreisläufen und Wirbeln unserer Gedanken und Gefühle gefangen. Und sie machen süchtig. Das Verständnis liegt weit darüber.

Nur wenn wir unseren Verstand zur Perspektive eines Vogels erheben, wird er imstande sein, Muster und Dynamiken zu erkennen, die unseren Ohren und Augen vorenthalten werden. Es ist still dort, wo der Adler fliegt – das leise Zischen der Luft in seinen Ohren verdoppelt lediglich die Klarheit seines Blickes.

 

Unsere Welt wird immer komplexer und verwobener. Wir müssen dringend das nüchterne, sachliche und noch dringender das systemische Denken lernen, um unsere Zivilisation zuerst zu verstehen und anschließend zu verändern.



Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.

Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“


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