Wenn etwas sich nicht in die richtige Richtung entwickelt, sich gegen uns wendet, verdeutlicht es uns einerseits, welchen Zustand wir uns im Gegensatz wünschen, und andererseits, wo wir bei der Umsetzung unserer Wünsche nicht erfolgreich sind. Deswegen lohnt es sich, uns das, was wir als die Krankheiten unserer Zivilisation bezeichnen, vor Augen zu führen.
Wir kommen nie zu Ruhe
Über Stress und Hektik beklagen sich wirklich alle, sogar Rentner ohne regelmäßige Verpflichtungen. Wo kommt dieses Gefühl her? Wir sind ununterbrochen Signalen und Aufforderungen aus unserer Umgebung ausgesetzt. In der Arbeit haben wir keinen Augenblick, an dem uns keine E-Mails oder Anrufe erreichen. Neue Aufgaben kommen auf uns in einem Tempo zu, das ihr ruhiges und genaues Abarbeiten unmöglich macht.
Wir kommen nie zu Ruhe. Wir haben verlernt, mit uns allein zu sein. Deswegen leben wir nicht unser Leben, sondern das Leben der Anderen.
Der Zwang der kontinuierlichen Effizienzsteigerung, dem die Unternehmen sich unterworfen haben, bewirkt, dass die meisten von uns heute deutlich mehr leisten müssen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Nach der Arbeit beeilen wir uns, weil wir unsere Freizeit voll ausnutzen wollen. Weil alle anderen sich genauso beeilen, steigern wir uns gegenseitig in unserer Anspannung, wie das Beispiel Straßenverkehr deutlich zeigt.
Was aber tun wir dann in unserer Freizeit? Wir kommunizieren über Belanglosigkeiten, konsumieren Medien oder hören Nachrichten, während wir die Hausarbeit erledigen. Wir kommen nie zu Ruhe. Die Langsamkeit verschieben wir gedanklich auf den Urlaub und weil der, um unseren Erwartungen gerecht zu werden, dann an einem ganz besonderen Ort stattfinden soll, bleiben wir auch auf dem Weg dorthin in unserer Hektik.
Mangelnde Konzentrationsfähigkeit ist eine andere Folge der Reizüberflutung. Wenn man wissen möchte, wie sie sich ausbreitet, muss man mit Lehrern sprechen. Es wächst eine Generation heran, die ohne ständige Sinnesreize und Unterhaltung gar nicht leben kann. Die Kultur und auch die materielle Zivilisation können allerdings nicht von Menschen aufrechterhalten, geschweige denn weiterentwickelt werden, die nicht fähig sind, konzentriert Werte zu schaffen.
Wir haben die Stille und Langsamkeit verloren
Aus unserer Lebensweise resultiert ebenso der Lärm. Stille ist uns fremd und unbehaglich geworden. Wir schalten das Radio an, gleich nachdem wir uns ins Auto gesetzt haben, und das Smartphone und die Fernbedienung für den Fernseher liegen auf der Couch bereit. Wir leben in Städten, die keine Stille kennen, und wenn wir in der Natur laufen oder spazieren gehen, reden wir oder hören Musik.
Wir glauben, keine Zeit zu haben, uns unser Essen selbst vorzubereiten. Wir essen das, was andere produziert haben. Die machen das aber so, dass das Ergebnis gut aussieht und auf einfache Weise unseren bereits konditionierten Geschmackssinn befriedigt. Und sie benutzen dabei meistens möglichst billige Zutaten. Dieses Essen macht auf Dauer unseren Körper und unseren Geist krank.
Unser Konsumverhalten zerstört die Umwelt und macht uns krank.
Aus unserem Lebensstil, vor allem aus unserem Konsumverhalten, und der Mobilität, die wir zu benötigen glauben, resultiert die Luftverschmutzung. Wir können, wenn wir es wollen, unser Essen mit Zutaten aus ökologischer Landwirtschaft selbst vorbereiten. Wir können uns Quellwasser kaufen, wenn uns das Leitungswasser nicht rein genug ist. Aber die Luft müssen wir so einatmen, wie sie ist, und sie macht uns allmählich krank.
Verunsicherung
Aus unserer schnellen und unruhigen Lebensart folgen auch Ängste, Verunsicherung, psychische Labilität. Diese haben allerdings auch eine tiefer liegende Ursache. Wir haben uns von unserem Wohlstand mit allen seinen Sachen und angeblichen Sicherheiten abhängig gemacht. Unbewusst wissen wir aber, dass es keine Sicherheit gibt. Krankheit, Verlust der Arbeit, Tod können jeden jederzeit treffen.
Wir verknüpfen auch unser Glück und Lebensziel mit vergänglichen Sachen und flüchtigen Erlebnissen. In dem Maße, in dem unser Leben vergeht, wird uns das unbewusst oder bewusst deutlich. Weil wir nichts Überdauerndes haben, was uns stark, furchtlos, zuversichtlich machen würde, sind wir in unserem Inneren verletzlich.
Zum Schluss seien auch die vielen Zivilisationskrankheiten genannt: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Wirbelsäulenprobleme, Krebs, Schlaganfall, Depression und Burn-out, Krankheiten der Seh- und Hörorgane, Übergewicht und Diabetes, Allergien … Sie zeigen uns auf, dass unser Lebensstil sich gegen uns wendet.
Wir sägen den Ast ab, auf dem wir alle sitzen. Und weil unsere Zivilisation mittlerweile so schwer geworden ist, wird der Fall schmerzvoll.
Unser gravierendstes Problem ist der mangelnde Kontakt mit der intakten Natur und wir empfinden es kaum noch als solches. Wir haben uns von unserer natürlichen Lebensumgebung isoliert. Alle Krankheiten unserer Zivilisation resultieren daraus. In der Natur gibt es Ruhe, Langsamkeit und Stille. Sie bringt uns saubere Luft, Wasser und Essen, wenn wir sie noch nicht vergiftet haben. Von der Natur geht ganz automatisch Kraft auf uns über.
Was tun?
Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.
Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
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