Das neue Paradigma ist bereits überall zu finden. Es wächst gleichsam „von innen heraus“ in unserer Gesellschaft als transformative Kraft heran.
Der folgende Text ist ein kurzer Abschnitt des Essays von Dr. Thomas Bruhn, der das Buch „Weltbild für den Blauen Planeten“ eröffnet.
Das Anthropozän als Etappe globaler Bewusstwerdung
Mein Astrophysik-Professor an der TU Berlin, Erwin Sedlmayr, pflegte seine Vorlesung „Einführung in die Astrophysik I“ mit einem Monolog zu beginnen, in dem er uns über mehrere Doppelstunden hinweg einen kurzen Abriss über die Entwicklung des kosmologischen Weltbildes im Laufe der letzten 8.000 Jahre vermittelte. Darin betonte er, welch bedeutsamer Anspruch es für die Menschen des europäischen Mittelalters gewesen war, dass die Beobachtungen über die physische Welt (Realität) auch in Einklang stehen mussten mit der spirituellen Erklärung des Seins. Mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften eröffnete sich ein Verständnis der dinglichen Welt, das mit den bis dahin geltenden religiösen Interpretationen der Wirklichkeit im Widerspruch zu stehen schien.
Seine Vorlesung hat mich bis heute geprägt. Nach wie vor bleibt es ein Leitfaden meines Suchens und Erkennens, diese beiden Stränge der Welterkenntnis, die naturwissenschaftlich-dingliche und die spirituell-metaphysische, zu verbinden. Ich bemühe mich, die Spannung auszuhalten, die sich aus der Unterschiedlichkeit dieser beiden Betrachtungsweisen immer wieder ergibt, und mich weder der einen noch der anderen allzu einseitig zu verschreiben. Ein Weltbild für den Blauen Planeten muss aus meiner Sicht eben beides adressieren und miteinander in Verbindung bringen: 1) Den Zustand des Planeten Erde beschreiben und 2) die Sinnhaftigkeit der menschlichen (und insbesondere meiner eigenen) Existenz darin befriedigend identifizieren. Mag jeder Versuch einer Antwort in diesem Spannungsfeld auch kontextspezifisch und vorläufig sein, so ist doch allein die Natur des Prozesses einer solchen Integration essenziell für alle meine Bemühungen, mich in der mir zugänglichen Welt sinnvoll zu orientieren.
Staunen und Bejahung der Welt als Ausgangspunkt von allem
Jede Annäherung an ein Weltbild für den Blauen Planeten muss in meinen Augen – jenseits aller wissenschaftlichen Argumentation – damit beginnen, festzustellen, wie wunderschön, wie kostbar und erstaunlich der Planet Erde und alles Leben sind. Als Forscher und Mensch erlebe ich mich als Teil eines Phänomens namens Leben, dass mich jeden Tag wieder staunen lässt ob seiner Vielfalt, Komplexität und Schönheit. Aus meiner subjektiven und moralischen Bewertung heraus mag ich leiden unter vielen Phänomenen dieser Welt, wie Armut, Übergriffigkeit und den vielfältigen Formen von Gewalt und Leid unter Menschen und nichtmenschlichem Leben. Und zugleich stellt all dieses Anerkennen für mich nicht infrage, was für ein Wunder diese Geschichte namens Evolution ist, von der ich ein Teil sein darf.
Darüber hinaus ist es für mich offensichtlich und doch wesentlich, hier festzuhalten, dass ich nur „meine“ Perspektive auf ein Weltbild artikulieren kann. Jegliches Bemühen von meiner Seite, ein „Weltbild für den Blauen Planeten“ zu formulieren, wird notwendigerweise stets Ausdruck meiner eigenen subjektiven Perspektive auf die Welt bleiben. So sehr ich mich bemühen mag, intersubjektiv überprüfbare, wissenschaftliche Fakten als Grundlage meiner Gedanken zurate zu ziehen, so sehr bleibt dies Unterfangen begrenzt durch die Länge dieses Textes, überhaupt durch das Medium des geschriebenen Wortes und vor allem dadurch, dass es stets Erkenntnisse und Erfahrungen geben wird, die jenseits meines Horizontes liegen. Es ist mir unmöglich, alles von Menschen heute Wissbare zu wissen oder alles menschlich bisher Erfahrbare erfahren zu haben. Daher erscheint es mir wichtig und notwendig, eingangs zu reflektieren, wie meine eigene Linse, mein Blickwinkel auf die Welt, beschaffen ist.
Seit meiner Kindheit schaue ich auf das Bild unseres Blauen Planeten und staune. Schon als ich ein kleiner Junge war, erschien es mir unfassbar, dass ich ein Bestandteil dieser Erde sein sollte und im Verbund mit all dem anderen Leben auf der Erde durch die Tiefen des Sonnensystems, der Milchstraße und des Kosmos reise. Seit über vierzig Jahren bin ich Teil der Evolution und sammele Erfahrungen darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein. Meine Perspektive hat im Laufe dieser Zeit erhebliche Veränderungen erlebt, und es scheint mir, als wäre jedes formulierte Erkennen dazu verdammt, schon morgen wieder teilweise überholt zu sein.
Fachlich stamme ich aus der Physik, genauer gesagt aus der Astrophysik und der Halbleiternanophysik. Vorlesungen der Philosophie und Psychologie waren für mich zwar inspirierend, wurden jedoch nicht zu einem gleichwertigen Fundament neben der Naturwissenschaft. Nach meiner Promotion entwickelte ich ein transdisziplinäres Interesse für Nachhaltigkeit und Erdsystemwissenschaft in der Schnittstelle zu Psychologie und Spiritualität. Ich wollte verstehen und aktiv dazu beitragen, wie Menschen auf eine Weise leben können, die nicht auf Ausbeutung und Zerstörung angewiesen ist, sondern bei der alles Leben gedeihen kann. Erst seit zwei Jahren habe ich mich nochmal einem echten Universitätsstudium der Psychologie und therapeutischen Verfahren gewidmet, um meinen Blick für diese Themen auch wissenschaftlich zu vertiefen.
Biografisch gesehen ist es sicher relevant, dass ich als weißer Mann aus gebildet-bürgerlichem Hintergrund in Westdeutschland aufgewachsen bin. Ich bin christlich (protestantisch) erzogen und konfirmiert. Dank eines sehr aufgeschlossenen katholischen Priesters, der lange Jahre mein Religionslehrer war, bin ich früh mit buddhistischer Meditation und taoistischer Philosophie in Kontakt gekommen. Persönlichen Umgang hatte ich jedoch fast ausschließlich mit Angehörigen christlicher Weltanschauungen. Erst im Laufe meines Studiums und Berufslebens habe ich mit Menschen aus mehr oder weniger allen Erdteilen und aus unterschiedlichsten sozialen Herkünften intensiven Kontakt gehabt und oft über lange Zeit zusammengearbeitet. Ich habe dabei selbst jedoch nie länger als sechs Wochen am Stück in einem Land außerhalb Europas gelebt. Vieles von meinem Verstehen über die Welt speist sich also aus Büchern und anderen Medien und ganz wesentlich aus den Begegnungen und Verbindungen mit jenen Menschen, mit denen ich in Kontakt war und bin.
Auf dieser Basis möchte ich hier meine Reflexionen über ein „Weltbild für den Blauen Planeten“ teilen. Ich betrachte sie als Ausdruck meines eigenen Ringens um eine stimmige Integration aus meinem naturwissenschaftlichen Verständnis und meiner metaphysischen Suche nach Sinn und Identität in diesem Leben. Dabei werde ich kein festes Weltbild im Sinn einer stabilen Gedankenstruktur beschreiben. Seine Klarheit würde ich eher vergleichen wollen mit der Klarheit eines Gebirgsbaches. Einerseits mag er transparent und zielstrebig sein, und doch ruht er nie und kann nie eindeutig abgebildet werden. Nach einem starken Regen oder einer Gerölllawine mag er sogar seine Erscheinung wesentlich verändern und bleibt doch stets den gleichen Prinzipien treu.
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Thomas Bruhn ist promovierter Physiker und leitet am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) Potsdam die Forschungsgruppe „Denkweisen und Geisteshaltungen für das Anthropozän“ zu der Frage, auf welche Weise die Kultivierung innerer Haltungen wie Achtsamkeit und Mitgefühl zum Wandel zur Nachhaltigkeit beitragen kann. Seit 2017 arbeitet er dort auch zu kollektivem Lernen und Ko-Kreativität im Kontext politischer Entscheidungsprozesse für Nachhaltigkeit.
Das Buch „Weltbild für den Blauen Planeten“ ist gerade erschienen. Es enthält elf Essays verschiedener Autoren aus Wissenschaft, Gesellschaft , Religion und Wirtschaft, die über die notwendige Veränderung in unserem Verständnis der Welt nachdenken.
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