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Andreas Sternowski

Hinduismus verstehen

Aktualisiert: 3. Dez.


Hinduismus ist so vielschichtig und umfassend, dass er uns im Westen unverständlich erscheint und deswegen nur schwer zugänglich bleibt. Ein Indienbesuch hilft da auch nicht weiter, weil der Tourist mit jedem besuchten Hindutempel vom Kern dieser Religion nur weggelenkt wird. Dieser Artikel liefert einen Schlüssel, mit dem man die große Schatzkammer des Hinduismus öffnen und sich die Juwelen nehmen kann, die einem wertvoll erscheinen.


Dieser Artikel erschien im „Vedanta Magazin“ der Vedanta-Gesellschaft e.V. in Berlin (Ausgabe Sommer 2024, Jahrgang 47).


Lord Ganesha im Hindutempel


Der Kern des Hinduismus


Zig verschiedene Gottheiten, Hunderte unverständliche Namen von weiblichen und männlichen Personen und sogar Tiergestalten, die als Götter verehrt werden – so erscheint auf den flüchtigen Blick der Hinduismus einem Westler. Wie soll man sich da ein Bild machen? Wie kann man das verstehen? Wofür soll das gut sein? Das vollständige Bild ist sogar noch viel komplexer: Jedes Dorf in Indien hat seine eigene Schutzgottheit, jeder Hindu hat sein persönliches Gottesideal (Ishta Devata), und jede Gottheit wird mit mehreren Namen angerufen, manche sogar mit Hunderten verschiedenen. Der Himmel der Hindus ist wahrlich überfüllt.


Was man von außen nicht sieht, was man als Outsider nicht wissen kann: Jeder Hindu ist sich dessen bewusst, dass es hinter all den Abbildern und Namen nur einen Gott gibt, dass dieser Gott kein Geschlecht hat und keine Gestalt ist und dass dieser Gott nicht im Himmel, sondern im Inneren des Menschen zu suchen ist. Und wenn man Ihn dort gefunden hat, erkennt man Gott auch in anderen Menschen, in allen Wesen und überall.


Was ist also der Kern des Hinduismus? Gott ist Eins, die Dichter nennen Es bei verschiedenen Namen („ekaṃ sad viprā bahudhā vadanti“, Rig Veda 1.164.46, das älteste erhaltene, weil über 5.000 Jahre alte, Buch der Menschheit). Jeder darf (und soll) seinen eigenen Zugang zu diesem Einen suchen. Die Religion ist ein Palast mit unendlich vielen Toren, und jeder Mensch kann das Tor öffnen, das ihn am meisten anzieht.


Der Schlüssel zur Religion der Hindus


Es gibt nur zwei Wege, die zum Verständnis des Hinduismus führen. Der erste ist, als Hindu geboren zu werden. Man wächst mit den Geschichten auf, die die Eltern erzählen, man betet und singt mit der Mutter und nimmt an den Anbetungen vor dem Familienaltar teil, die der Vater anlässlich der vielen Feste des Hindukalenders zelebriert. Mit der Zeit kennt man all die Namen, assoziiert sie mit den vielen Geschichten aus den unzähligen Schriften der Hindus und findet unterwegs die Gestalt Gottes, die einen am meisten anspricht, zu der man am besten eine innige Beziehung aufbauen kann. Das ist dann die Beziehung zu Gott, die den Menschen sein ganzes Leben lang trägt.


Der zweite Weg, der zum Verständnis der Religion der Hindus führt, ist eine lange, intensive Beschäftigung mit der Religion, den indischen Schriften und der Vielfalt der Philosophieschulen der Hindus. Das ist der einzige Weg, der einem Westler offensteht.


Auf beiden Wegen kommt man allerdings nur dann wirklich voran, wenn man den Schlüssel gefunden hat. Was ist der Schlüssel zum Hinduismus? Es ist die Liebe zu Gott. Wenn man sich Ganesha zuwendet, ohne die Liebe seiner Eltern Parvati und Shiva (die in der Summe den einen allmächtigen und allgegenwärtigen Gott repräsentieren) zu fühlen, sieht man nur eine merkwürdige menschliche Gestalt mit dem Kopf eines Elefanten. Ohne Hanumans Liebe zum inkarnierten Gott in Gestalt von Rama zu teilen, wird man in ihm lediglich einen vermenschlichten Affen finden. Ohne die kluge mütterliche Liebe in der Göttlichen Mutter Durga zu entschlüsseln, wird man sie als blutrünstige, furchterregende Gestalt betrachten. Die Liebe zu Gott ist die Faser, aus der der farbenfrohe Gobelin des Hinduismus gewebt ist.


An dieser Stelle frage ich Sie: Kann der Mensch seinen Weg zu Gott durch das Dickicht der Welt finden ohne Liebe im Herzen? Nachdem ich mein Leben lang mit dieser Suche verbracht habe, lautet meine Antwort: Nein, das wird ihm nicht gelingen. Liebe ist der einzige Schlüssel, mit dem man das große Geheimnis, das wir Gott nennen, dekodieren kann. Und das Reinigen, das Sublimieren dieser Liebe zeichnet den Weg, auf dem der Mensch bei diesem Entschlüsseln vorankommt. Ohne Liebe im Herzen wird übrigens auch die Welt ein Leben lang ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.


Wofür soll das Pantheon des Hinduismus gut sein?


Der Hinduismus ist ein über Jahrtausende aufgebautes, immenses Gebäude, das für jedes menschliche Herz einen Platz bereithält. Es ist eine riesige Raffinerie, in der jede noch so kleine Liebe destilliert werden kann. Ist das nicht die Funktion jeder Religion? Ist die Reinigung der jedem Menschen angeborenen Güte, des „Schönen und Guten“, wie Sokrates es nannte, nicht der einzige Weg, der zu mehr Menschlichkeit führt?


In dem geräumigen Pantheon des Hinduismus finden alle nach Gott Suchenden ihren Wegbegleiter, und zwar einen, den sie auf dieser konkreten Etappe ihres Weges brauchen. Dieser Begleiter ist immer gerade so groß, dass sie noch nach seiner Hand greifen können. Und während sie auf ihrem Weg fortschreiten, wächst der Begleiter mit ihnen. Zu klein wird er nie: Er kann bei Bedarf bis zum formlosen Brahman wachsen, dem Stoff, aus dem alles besteht, dem Licht, in dem sich alles auflöst. Im Ergebnis gehen die Suchenden nie allein.


Sollen wir deswegen alle Hindus werden? Natürlich nicht! Ich teile mit Ihnen nur, was ich selbst bei meiner bereits über eine Dekade andauernden, intensiven Beschäftigung mit Hinduismus verstanden habe, weil ich vermute, dass dies auch für einen Christen, einen Agnostiker oder sogar einen Atheisten bei seiner Suche nach mehr Menschlichkeit von Nutzen sein kann. Diese Suche gelingt am ehesten, wenn sie im Herzen beginnt, um dann in der göttlichen Raffinerie der Liebe veredelt zu werden.


Hinduismus verstehen


Wenn Sie den Hinduismus verstehen wollen, müssen Sie dieses farbenprächtige Ökosystem mit dieser Einstellung betreten. Der beste Weg ist, sich von einem Hindu die unzähligen Geschichten aus den Puranas, dem Mahabharata und dem Ramayana erzählen zu lassen. Sie sind lebensklug, lehrreich und spannend! Gleichzeitig werfen sie viele Fragen auf. Stellen Sie diese Fragen. Hinter jeder dieser Geschichten gibt es mehrere Bedeutungsebenen, die entdeckt werden wollen. Sie machen diese Entdeckungsreise nicht nur interessant, sondern auch tiefgründig.


Parallel dazu lassen Sie sich auf die reiche Philosophie der Hindus ein, vor allem auf das Sankhya, den Yoga, das Nyaya (formale Logik) und den Vedanta. Der skeptische, kritische Verstand des Westlers bleibt ohne sie unbefriedigt. Sie leiten eine intellektuelle Reise eigener Art ein. Diese Reise wird Sie nie vergessen lassen, dass es um etwas Wichtigeres geht: um das Verständnis der Welt und des Menschen, des Lebens und des Todes°– um alles und das auf angewandte Weise.


Fangen Sie jedoch nicht damit an, alleine die Texte der Upanishaden zu studieren oder einfach die Vivekacudamani von Adi Shankara zu lesen. Ohne all die Bedeutungen und Konnotationen für die dort benutzten Wörter zu kennen und ohne bereits das gesamte Konstrukt des Vedanta verstanden zu haben, kommen Sie nicht weit. Es gab im letzten Jahrhundert und es gibt auch heute zum Glück ausreichend Bücher und Vorträge von indischen Vedantinern, die das Wesen und die Bedeutungstiefe dieser Texte verständlich und korrekt erklären. Nehmen Sie aus diesen Erklärungen nur so viel, wie Sie gerade tragen können. Alles ist für ein einziges menschliches Leben sowieso zu viel. Alles ist aber auch nicht notwendig.


Das Wichtigste am Hinduismus ist allerdings die Praxis: die Meditation, das Gebet, die Selbstanalyse, die Reinigung des Herzens und des Geistes, die Arbeit am eigenen Charakter, das aktive und selbstlose Mitgefühl. Das ist es, wo der Hinduismus in Yoga übergeht, wo es für Sie nicht mehr nur um das Verständnis einer fremden Religion, sondern um das eigene Leben gehen wird. Diese praktische Seite ist das Wichtigste, womit der Hinduismus uns im Westen beschenkt. Es ist das größte Geschenk, das eine fremde Kultur, das eine andere Religion geben kann.


Was macht den Hinduismus aus?


Die Hindus betrachten ihre Religion eher als etwas, was man tut, als etwas, woran man glaubt. Glauben muss man im Hinduismus eigentlich gar nicht. Man muss zwar die Autorität der Veden anerkennen, aber diese Anerkennung ist eigentlich eine Verbeugung vor Gott und den großen altertümlichen Dichtern, die Gott entdeckt, erfahren und besungen haben.


Und was tut der Hindu? Er versucht sein Leben, sein Denken und Handeln zu läutern, weil er, wenn er rein wird, das Göttliche widerspiegeln kann. Diese Bemühung nennt man Sadhana, und sie ist äußerst praktisch zu verstehen. Die Grundlage der Sadhana bildet der Dharma, also die moralische Lebensführung, die Übernahme der Verantwortung für sein eigenes Handeln, aber auch für seine Pflichten in der Familie und in der Gesellschaft. Der Dharma ist der wichtigste Pfeiler des Hinduismus und die Pflicht jedes Hindus. Die Sadhana geht aber deutlich weiter. Sie ist ein selbst eingeleiteter und eigenverantwortlich geführter Prozess der inneren Transformation. Diese Transformation ist Ziel und Zweck jedes Menschenlebens.


Um zu verstehen, warum der Lebenszweck in der inneren Transformation liegt, muss man zwei wichtige Überzeugungen aller Hindus kennen: das Karma und die Reinkarnation. Karma beschreibt das grundlegende Gesetz des menschlichen Lebens, das aus willentlichem Handeln des Menschen resultiert: Ursachen führen zwangsläufig zu Wirkungen. Daraus folgt, dass alles, was uns begegnet, das Ergebnis unserer früheren Taten, Gedanken und Wünsche ist. Diese Ergebnisse überleben den physischen Körper, werden wiedergeboren und begleiten uns so lange, bis alle Wirkungen sich manifestiert haben oder unser Geist, Herz und Gewissen so rein und sublimiert geworden sind, dass die Wirkungen keinen Boden mehr finden, um wieder zu keimen. Diese Reinigung und Sublimierung ist das Ziel der Sadhana. Nur wenige Hindus werden zu Sadhakas, aber für alle ist Sadhana ein Ideal, und sie versuchen in ihrem Leben wenigstens etwas von diesem Ideal umzusetzen.


Und was passiert, wenn der Geist perfekt rein geworden ist? Er verschmilzt mit dem Göttlichen, das als reines Bewusstsein und vollkommene Glückseligkeit beschrieben wird. Diese Verschmelzung ist das letztendliche Ziel des Prozesses der Reinkarnation. Damit ist Selbstverwirklichung der Zweck des Lebens, ja sogar der gesamten Schöpfung, und die Religion hat die Aufgabe, die Erfüllung dieses Zwecks zu unterstützen.


Aus dem praktischen Verständnis der Religion durch die Hindus resultiert die Meditation. Meditation und Gebet sind die täglichen Praktiken jedes Hindus. Sie gehören auch zu den Grundlagen der Sadhana. Die Befreiung vom Kreislauf des Karmas impliziert, dass man nichts tut oder begehrt, was schlechte oder unerwünschte Resultate bringen würde. Starke Wünsche (außer dem Wunsch nach der spirituellen Vervollkommnung) sind sowieso unwillkommen, weil sie, wenn unerfüllt, zu Wiedergeburt führen müssen. Deswegen übt sich jeder Sadhaka darin, von Versuchungen und Begehrungen frei zu werden, erreicht Selbstkontrolle, wird ausgeglichen und genügsam. Sein inneres Loslassen der Welt darf jedoch nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden: Die Welt ist die Manifestation des Göttlichen, und Menschen, ja alle Lebewesen, sogar eine ganz besondere. Deswegen kann man sich dieses innere Loslassen am besten als eine Sublimierung des Mitgefühls vorstellen bei gleichzeitiger Vermeidung der Falle der emotionellen Anhaftung an Menschen, Sachen und Wünsche. Sie haben vielleicht bereits gemerkt: Die Sadhana ist eine gut erforschte angewandte Wissenschaft und sie wird deswegen bei fähigen, erfahrenen Lehrern studiert.


In der Summe ist Hinduismus eher eine Weltansicht und ein bestimmtes Verständnis des menschlichen Lebens als eine Religion, wie wir sie im Westen verstehen. Für einen Hindu sind deswegen sein Leben und die Religion eine Einheit. Da es aber im Hinduismus keine Kirche mit eigenen Ansprüchen gibt, müssen die beiden Bereiche des Lebens auch im modernen Verständnis der Gesellschaft nicht voneinander getrennt werden, wie wir das im Westen gemacht haben.


Wie unterscheidet sich der Hinduismus von anderen Religionen?


Zuerst ist im Hinduismus Gott keine Person, die im Himmel lebt und über die Welt waltet. Gott ist reines Bewusstsein, und alles Grobstoffliche dieser Welt ist in letzter Konsequenz (wenn man den „Farbfilter“ des eigenen Körpers und der Sinne ablegen kann) auch nichts anderes als dieses Bewusstsein und als solches erfahrbar. Weil Gott damit auch Krishna, Rama und Mutter Kali ist, kann Es auch in jeder hinduistischen Gottheit verehrt werden.


Hinduismus basiert nicht auf einer Offenbarung und nicht auf Lehren eines oder einiger Gesandten, eines Propheten oder einer Inkarnation Gottes. Man kann ihn auch nicht auf eine Reihe von Glaubenssätzen zurückführen. Deswegen waren die Hindus in der Geschichte immer tolerant und offen für alle anderen Religionen. Die gegenwärtigen Ansätze des religiös motivierten Hasses sind eine moderne Erfindung. (Ich verzichte darauf, dieses Thema im Rahmen dieses kurzen Beitrags zu diskutieren.) Der Buddhismus beispielsweise (eine indische Religion) fand unter den Hindus viel Anklang. Jesus wird von den Hindus als Inkarnation Gottes nicht nur anerkannt, sondern auch im höchsten Maße respektiert. Und trotz einer langen und brutalen Herrschaft der muslimischen Invasoren über das Land lebten Hindus und Muslime über Jahrhunderte friedlich nebeneinander.


Die Grundlagen dieser Religion sind rational. Sie wurden von den Sehern der Veden und im Besonderen des Vedanta gelegt. Ihre Aussagen basierten auf den Erfahrungen aus ihrer Sadhana. Außerdem waren diese Seher eigentlich Philosophen. Deswegen sind die klassischen indischen Philosophieschulen ein Teil des Hinduismus. Aus der Suche nach der praktischen Erfahrung Gottes sind die vielen Methoden des Yoga entstanden, die auch vollständig rational erklärbar und aus dem Hinduismus nicht wegzudenken sind. In dieser Rationalität ist Indiens beispiellose Freiheit im Denken und in der Auslegung der Religion begründet. Sie erklärt auch, warum es in Indien keine Kirche, wie wir sie im Westen kennen, gibt.


Nach dem hinduistischen Verständnis hat die Religion das Ziel, dem Menschen, unabhängig von dessen Religionszugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht, die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen zu geben, und zwar in diesem Leben. Die Hindus sind sogar davon überzeugt, dass diese Erfahrung im Himmel gar nicht erreicht werden kann, weil dort (ohne die Widrigkeiten des irdischen Lebens) die innere Läuterung nicht stattfinden kann. Alles, was diesem Ziel dient, ist willkommen. Diese Einstellung hat zu der enormen Heterogenität des Hinduismus geführt.


Religion und Entsagung


Es gibt noch etwas, das bei vielen der beschriebenen Kernelemente des Hinduismus mitschwingt und das ich nicht unausgesprochen lassen kann. Wenn wir über Hinduismus, über Sadhana und Yoga sprechen, ist die Idee der Entsagung immer dabei. Wenn wir im Westen Entsagung hören, denken wir an christliche Heilige, an Eremiten oder vielleicht auch an Menschen, die ihren Rücken kasteiend durch die mittelalterlichen Straßen zogen. Hier muss man genau differenzieren. Es gibt auch in Indien Leute, die ihrem Körper Schmerzen zufügen oder ihn auf andere Weise bis an die Grenzen des Ertragbaren führen. Das ist aber nicht, worum es im Hinduismus bei Entsagung geht. Das Ziel der Sadhana liegt jenseits des Körperlichen. Das Mentale wiederum ist nur ein Mittel zum Zweck – man braucht einen klaren Verstand, ein reines Herz und ein makelloses Gewissen, um die höchste Reinheit, zu der der Mensch fähig ist, zu erreichen, bei der alles Körperliche und alles Mentale abfällt und nur das reine Bewusstsein übrig bleibt. Die Entsagung ist einfach eine der Methoden, mit der man diese Reinheit erreicht. Es ist ein Prozess der Unterscheidung zwischen dem, was uns zu unserer Freiheit führt, und dem, was uns bindet, und wir entscheiden uns schließlich, dem zu entsagen, was für das Erreichen unseres Endziels schädlich ist. Das war allerdings bei den wahren Heiligen des Christentums oder Sufis und Fakiren im Islam auch nicht anders.


Unser Geist – was wir glauben, wollen und begehren, unsere Gedanken und Gefühle – führt ein Eigenleben. Das bemerkt man erst, wenn man gelernt hat, diese Gedanken und Gefühle zu beobachten. Für diese Beobachtung muss man zwangsläufig die Perspektive ändern und sieht, dass man (das Selbst) nicht diese Gedanken, Wünsche und Gefühle ist. Sonst würde man sie ja nicht beobachten können. Erst von diesem Standpunkt aus kann man anfangen, an der Hygiene und Güte des eigenen Geistes zu arbeiten. Wir sind aber über unzählige Leben so daran gewöhnt, die Perspektive unserer Gedanken und Gefühle einzunehmen, dass wir bald wieder unser eigentliches Selbst verlassen, ohne es zu merken, und blind den Launen und Einfällen unseres Geistes folgen. Entsagung zwingt uns, immer wieder die Perspektive zu ändern.


Sie ist eine Methode, mit der wir üben, zu den Ideen und Impulsen unseres Geistes „Nein“ zu sagen. Die Versuchungen des Geistes (Essen, Gier, Sex usw.) sind die beste Gelegenheit dafür. Es gibt keine andere Möglichkeit, den Geist zu disziplinieren, ihn unter Kontrolle zu bringen, als „Nein“ zu seinen schädlichen oder maßlosen Impulsen und Lüsten zu sagen. Bei Entsagung geht es folglich nicht darum, blindlings bestimmte Verbote zu befolgen, weil wir dann den Geist zwar zu etwas zwingen, aber seine Perspektive nicht verlassen. In einem solchen Fall stärken wir vielleicht unseren Willen – die Reinheit unseres Verstandes, Herzens und Gewissens entwickelt sich jedoch nicht. Diese Entwicklung muss bewusst und selbstreflektierend erfolgen. Es geht nicht um Disziplin, sondern um aufmerksame Selbstdisziplin. Diese kann nur dann systematisch und bewusst geübt werden, wenn wir die Perspektive unseres eigentlichen Selbst annehmen. Dieses Selbst ist bereits rein, und nur etwas Reines kann reinigen. Dieser Prozess ist eine Arbeit, die nur wir selbst verrichten und nur wir kontrollieren können, und sie bleibt für die anderen unsichtbar.


Durch Entsagung lernt man, nach Belieben zu entscheiden, etwas zu tun und zu denken oder nicht. Sie führt zur Selbstbestimmung in ihrer perfekten Form. Diese Selbstbestimmung ist bei Sadhana unentbehrlich. Klar hilft es, wenn ein Mönch Keuschheit oder Armut gelobt, weil er dann bei Gott, der sein Ziel ist, im Wort steht. Er kann das Gelöbnis nicht brechen, ohne sein Ideal zu verraten. Das hilft ihm, seinen Vorsatz einzuhalten. Aber das ist nur ein Hilfsmittel und nicht unbedingt erforderlich. Deswegen gab es in Indien neben den Mönchen immer auch Familienväter und Mütter, die die Perfektion in Sadhana und Yoga erreicht haben. Sie hatten Ehegatten und Kinder und gingen ihren familiären und gesellschaftlichen Verpflichtungen nach. Sie alle übten aber Entsagung, weil sie wussten, dass diese Methode sie näher an Gott bringt.


Und hier schließt sich der Kreis zum hinduistischen Verständnis der Religion. Sie hat das Ziel, dem Einzelnen bei seiner inneren Transformation zu helfen. Die Einstellung der Hindus zu Religion ist eine der Selbstverantwortung. Sie erlegt ihnen die Verantwortung auf, an sich selbst zu arbeiten. Wir können diese menschliche „Haltung“ nicht einmal als eine hinduistische bezeichnen. Sie ist eine Entdeckung der Menschheit in diesem Teil der Welt. Sie legt uns die Verantwortung auf, selbst an uns zu arbeiten. Diese Arbeit ist ein selbst eingeleiteter und eigenverantwortlich geführter Prozess. Die Erlösung ist damit das Ergebnis der inneren Transformation, ohne die es Gnade Gottes nicht geben kann. Damit ist Entsagung, genauso wie das innere Loslassen, die Rechtschaffenheit oder die Selbstlosigkeit, keine Bürde, sondern ein Wegweiser zu erfolgreichem Leben, weil jeder Hindu weiß, dass äußerlicher Reichtum und äußerliche Fülle ihn von den inneren ablenken kann. Entsagung ist deswegen ein Teil des hinduistischen Lebensideals. Auch hier bedeutet das zwar nicht, dass alle Hindus diesem Ideal folgen, aber über die kleine Schwester der Entsagung, die Genügsamkeit, kann man das auch heute immer noch sagen.


Und wie verhält sich das Postulat der Entsagung zur Liebe zu Gott, die den Kern des Hinduismus bildet? Die höchste Form der Liebe ist, wenn man sich selbst vergisst und eins mit seinem Geliebten wird. Weil Gott das Reine und Sublime ist, muss der Mensch alles Unreine und Grobe loswerden. Die Entsagung ebenso wie Dharma oder Sadhana ist also die natürliche Folge der Liebe zu Gott.


Die Juwelen des Hinduismus


Was sind also die Juwelen, die die Schatzkammer des Hinduismus enthält und die für uns im Westen eigentlich von großem Interesse sein sollten? Das wichtigste ist wohl der Yoga. Er zeigt uns ein Ideal eines Lebens, das auf der Ausgeglichenheit und Reife des Charakters, auf innerem Frieden und Genügsamkeit bei den materiellen und Unersättlichkeit bei den geistigen und spirituellen Errungenschaften beruht. Das zweite Juwel ist der Vedanta, der uns eine Erklärung der Welt bietet, die mit der modernen westlichen Wissenschaft vereinbar ist und trotzdem die Seele des Menschen einbezieht.


Ein anderer Schatz ist Ahimsa, das bewusste und konsequente Vermeiden jeglicher Gewalt und jeglichen Schadens im Tun und sogar im Denken. Mit Ahimsa hat Indien seine Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpft. Sie ist ein Grundstein aller auf dem Subkontinent entstandenen Religionen. Sie könnte der Menschheit dazu dienen, eine Welt im Frieden und eine Zivilisation, die die Natur nicht zerstört, aufzubauen.


Ein weiterer Schatz ist die Idee der kritischen Überwachung der eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle – die Hygiene des Geistes und des Herzens. Sie ist eine wichtige Technik des Yogas und der erste Schritt der Sadhana. Sie kann uns helfen, in der von Medien und Kommerz bestimmten Welt als mündige und eigenständig entscheidende Individuen zu bestehen.


Das letzte Juwel in meiner Auswahl ist die Bhagavad Gita, ein schmales Buch, das die Essenz der Upanishaden enthält und den Yoga erklärt, ein Text, der richtig verstanden zum idealen Wegbegleiter durchs Leben werden kann. Das Leben ist eine eigentümliche Reise, eine, bei der man weiter vorankommt, wenn man zu Fuß geht, als wenn man sich in ein bequemes Auto setzt. Je mehr Mühe man dabei aufwendet, umso wertvoller die Frucht dieser Reise – die Reise verwandelt sich in ein faszinierendes Abenteuer. Die Bhagavad Gita ist ein Reiseführer, der speziell für Menschen gedichtet wurde, die diese Mühe auf sich nehmen und dieses Abenteuer erleben wollen. Er inspiriert, ermutigt, zeigt das Ziel auf und gibt Regeln für die Reise des Lebens vor, bis man sie vollendet hat.


Es gibt also eine Schatzkammer und es gibt nicht nur einen Schlüssel dazu, sondern auch ausreichend viele Beschreibungen, die uns die richtigen Juwelen aufzeigen. Diese Juwelen sind vielleicht nicht leicht zu tragen, die Mühe lohnt aber, weil man sie gegen ein erfülltes, vom Glück gezeichnetes Leben tauschen kann.


Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.


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