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Alan P. Stern

Ego - der Kern westlicher Kultur

Aktualisiert: 3. Dez.


In Namen von Jesus wurden unzählige Menschen getötet. Im Namen von Buddha nicht. Warum?


Die Lehre von beiden war an die Situation, ihre Zuhörer und ihre Kultur angepasst und deswegen bei flüchtigem Blick unterschiedlich. In ihrem Kern war sie aber bei Jesus nicht anders als bei Buddha. Beide lehrten ihre Mitmenschen voller Liebe, aber auch in deutlichen Worten die Umkehr vom Leben, das sich nach außen richtet. Beide sprachen von Gewaltlosigkeit und Mitgefühl. Beide traten gegen eine ritualisierte Religion und gegen Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ein und wurden deswegen vom Establishment verfolgt. Warum haben wir im Westen mit Jesus‘ Namen auf den Lippen getötet, die Menschen auf dem indischen Subkontinent und den angrenzenden Ländern aber nicht? Wo liegt der Unterschied?



Statue von Jesus über den Wolken


Der Unterschied liegt in der Kultur. Unsere Kultur hat einen eingebauten Fehler: den Egozentrismus. Unser Wertekanon geht von dem Individuum aus. Unser Weltbild bezieht die Natur und die Gesellschaft auf den Einzelnen und stellt nicht den Einzelnen in die Natur und in die Gesellschaft hinein. Wir bewerten unser Denken und Handeln in Bezug auf unsere eigenen Werte und Interessen und sehen in der Natur keinen uns überragenden Sinn oder in der Gesellschaft keine übergeordnete Ordnung.


Unsere ganze Kultur und auch die Gesellschaft sind auf Individualismus aufgebaut.

Das Individuum steht auch im Zentrum unseres Rechts. Wie weit das geht, zeigen beispielsweise unser Urheberrecht oder manche Auslegungen des Patentrechts. Wir schützen Rechte des Individuums an Gedanken, die es ausformuliert hat, oder Fakten, die es beschrieben hat, sehen also Ideen und Wissen als sein Eigentum. Gibt es überhaupt Ideen, die aus dem Nichts entstehen und ohne Bezug auf Ideen anderer möglich wären? Gibt es Wissen über die Natur, das einem Einzelnen gehören kann? Wir stellen die Bewegungsfreiheit eines notorischen Vergewaltigers über das Recht der Gesellschaft, frei von seiner Bedrohung zu sein.

Dass wir nicht die Werte oder die Schönheit, sondern den individuellen Ausdruck des Künstlers als Gegenstand der Kunst betrachten, ist ebenfalls aus dem Erbgut des Egozentrismus erwachsen.


Auf dem Boden des Egozentrismus gedeiht Egoismus. Aus dem Egoismus folgt beispielsweise, dass im Zentrum unseres Wirtschaftssystems die Gier steht – wir sanktionieren sie nicht nur, wir preisen sie als wertvoll an. Die andere Frucht des Egozentrismus ist der Hochmut. Wir sehen es als berechtigt an, die Welt unseren Wünschen und Ideen anzupassen. Wir trauen uns zu, die Schöpfung zum Besseren zu manipulieren. Wir nehmen gedanklich den Platz über der Gesellschaft und über der Natur ein. Es gibt ein Gebot des Shinto, einer in Japan ansässigen Religion, das besagt: Vergiss nicht die Begrenzungen deiner eigenen Person. Die Wahrheit und Klugheit in diesem Gebot werden wir lernen müssen.


Selbstloses Handeln


Unbewusst wissen wir schon, dass wir mit dem Egoismus nicht weiterkommen. Die wachsende Anzahl von Menschen, die sich für die Leidenden und Verfolgten oder für die Umwelt einsetzen, zeigt das. Ihr Handeln ist selbstlos.


Auch die über 200 Jahre der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zeigen in der Gesellschaft zunehmend Wirkung. Der Sozialstaat, der Kommunitarismus, die immer lauter postulierte soziale und gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen sind die Zeichen dieser Wirkung. Gerechtigkeit und Solidarität sind lange keine bloßen Postulate mehr, sondern wichtige gesellschaftliche Strömungen.


Selbstlosigkeit ist das Gegenteil des Egoismus. Selbstlosigkeit macht den Handelnden und die Gesellschaft gleichermaßen stark. Sie schafft die richtigen Werte. Sie birgt genug Kraft, um unsere Zivilisation nicht nur zu retten, sondern sie mit neuer Stärke für alle absehbare Zukunft auszustatten.


Egozentrismus ist der Kern unserer Kultur


Mit dem Unterbau des Egoismus, dem Egozentrismus, wird es schwieriger. Er ist in die Wurzeln unserer Kultur eingebaut.


Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass sich die Welt um uns drehen muss.

Ein Weg, die den Egozentrismus nährenden Säfte zu drosseln, führt über das Verständnis der Rolle des Egos (des Ich-Bewusstseins) als geistiges Instrument des Menschen. Nüchtern betrachtet ist unser Ego unsere eigene Verblendung. Weil wir uns mit unseren Ideen und unseren Wünschen gleichsetzen, betrachten wir ihre Geltung und Durchsetzung als gerechtfertigt an – wir bestehen geradezu darauf. Das Ego macht uns vor, über allen anderen Menschen zu stehen.


Das verstärkt unsere Rücksichtslosigkeit gegenüber unserer Umgebung und der Natur. Je größer das Ich-Bewusstsein, umso größer unsere Ignoranz. Was dieses Ego schwächen würde, wäre die Anerkennung der Demut als einen wichtigen Wert: in der Kultur, in der Bildung, in der Gesellschaft. Ein anderer Weg führt über die Beendigung des Primats des Individuums, seiner Interessen und Rechte über die Interessen und Rechte der Gemeinschaft.


Letztendlich können wir dem überwuchernden Egozentrismus in unserer Kultur nur begegnen, wenn wir den Egoismus aus dem Grunddesign unserer Zivilisation entfernen. Das alleine schmälert zwar kein einziges menschliches Ego, schwächt aber seinen Einfluss auf die Gemeinschaft. Und das wird allmählich auch die Strömung unserer Kultur umlenken. Wir brauchen diese Veränderung, um eine bessere Zivilisation aufzubauen.


Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.

Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“


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