Genügsamkeit ist ein Modell für die nachhaltige Zukunft. Interview mit Alan Patrick Stern, dem Autor des Buches „Redesigning Civilization: Wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
Continentia: Herr Stern, es sind fünf Jahre vergangen, seitdem Ihr Buch über den Übergang zu einer genügsamen, nachhaltigen und harmonischen Zivilisation erschienen ist. Sehen Sie in der Gesellschaft ein Umdenken in diese Richtung?
Stern: Auf den ersten Blick nicht. Das Ziel des Staates ist weiterhin wirtschaftliches Wachstum. Man will die Natur durch mehr Wirtschaft retten: mehr Technologie, mehr Kapital, mehr Konsum. Es ist, als ob man Stille durch das Aufstellen von immer mehr Audioapparatur retten wollte.
Aber auch wir als Einzelne wollen weiterhin immer mehr: mehr und neue Sachen, mehr Fläche, mehr Mobilität und Kommunikation, also mehr Konsum. Und das ist der eigentliche Grund, warum dieses System die Natur zerstört und die Erde erwärmt. Der Vermehrungsmotor bläht außerdem die ökonomische Ungleichheit und die gesellschaftliche Schieflage weiter auf. Es ist ein instabiles System, das sich am Ende selbst zerstören wird.
Auf der anderen Seite aber denken immer mehr Menschen um. Das ist unvermeidbar. Wenn sich das Gefühl verstärkt, dass „weiter so“ nicht funktionieren kann, zwingt es uns, unsere gewohnten Positionen zu verlassen. Mehr Druck im System verursacht größere Volatilität. Einige sehnen sich daraufhin nach Zauberern, die versprechen, die gewohnte Vergangenheit wieder herzuzaubern. Andere glauben an Zauberer, die durch neue Technologien wieder die gewohnte Stabilität herzaubern wollen. Aber es gibt auch zunehmend Menschen, die ein tieferes Verständnis der zivilisatorischen Krise erlangen und das gesamte System infrage stellen. Ein Teil von ihnen kommt dabei zu der Erkenntnis, dass die Lösung in weniger und nicht in mehr Konsum liegt.
Continentia: Wo sehen Sie die größten Hürden für diesen Umdenkprozess?
Stern: Am schwierigsten fällt es uns, unser Weltbild und unsere Lebensauffassung infrage zu stellen. Das möchte ich kurz ausführen: Unsere Kultur entwickelte sich mit dem Blick auf die Welt außerhalb unseres inneren geistigen und spirituellen Territoriums. Wir machten zwar romantische Ausflüge in das innere Universum des Menschen, aber unsere Mühe, unsere Aufgaben, unsere Arbeit galt dem Universum aus Materie. Kultur ist nichts anderes als das Ergebnis der Bemühung und Arbeit der Menschen. Und die Zivilisation folgt der Kultur.
Das Ziel war ein bequemes, vergnügliches Leben, also haben wir die Ressourcen der Natur dafür genutzt, eine bequeme, vergnügliche künstliche Welt zu errichten. Und zu dem, was wir Ressourcen der Natur nennen, gehört (das haben wir irgendwie verdrängt) das Leben: bewusste, fühlende Wesen und ein wundervoll komplexes, unser Vorstellungsvermögen übersteigendes Ganzes aus Leben und aus natürlichen Prozessen, die das konstituieren, was wir den Planeten Erde nennen. Wir sind ein Teil dieses Ganzen.
Continentia: Ist das nicht das Wesen jeder Zivilisation, eine Lebensumgebung zu schaffen, in der Menschen bequem und sicher leben und gedeihen können?
Stern: Ja. Die Frage ist nur, wann ist es der Bequemlichkeit genug. Und hier kommen wir zum Kern des Problems. Wenn wir unsere Ziele nur in der Außenwelt, nur im Materiellen suchen, werden wir mit der Aneignung der Natur (und damit mit ihrer Zerstörung) nie aufhören: Es wird immer etwas geben, was uns verspricht, unser Leben noch bequemer, netter, unterhaltsamer, unbeschwerter zu machen. Es gibt kein Ende. Es wird nie genug. Das Ziel läuft vor uns weg, während wir gehen. Wenn wir uns jedoch unserem inneren Universum zuwenden, wenn wir das Ziel in uns selbst, in unserem menschlichen Wachsen, in der humanen Vollkommenheit sehen, passieren interessante Dinge.
Erstens ist dieses Ziel fest und nur wir bewegen uns während des Lebens darauf zu. Das Ziel ist also keine Fata Morgana mehr. Zweitens brauchen wir nicht immer mehr Dinge. Wir brauchen zwar eine sichere, menschenfreundliche Lebensumgebung, aber keinen unersättlichen Konsum mehr und dadurch auch keinen Reichtum. Wir werden automatisch genügsamer. Und drittens werden wir glücklicher. Es ist ein trügerischer Versuch, in der Welt der Dinge, Bequemlichkeit und Zerstreuung Glück zu suchen. Es ist ein vergeblicher Versuch. Das Glück kann nur in unserem Inneren wachsen und nur dort aufblühen. Äußere Genügsamkeit und innerer Reichtum ergeben eine Zivilisation, die nachhaltig, friedlich und glücklich ist.
Was eine menschenfreundliche Lebensumgebung ist, ist eine Frage der Weltauffassung. Weil wir heute immer noch unsere Probleme ausschließlich draußen sehen, suchen wir auch dort nach Lösungen. Die Lösung liegt in Wirklichkeit innen: in unserem Denken, in unserem Selbstverständnis, im Herzen und im Gewissen. Wir müssen mehr nach innen schauen und mehr Arbeit dort verrichten. Daraus wird eine neue Kultur entstehen. Die materielle Welt, unsere Lebensumgebung, wird sich dann automatisch ändern.
Continentia: Wie kann man dem Menschen vorgeben, wie er sein Lebensziel begreift?
Stern: Das kann man nicht. Das soll man auch nicht. Die Frage nach den Lebenszielen ist aber im Grunde eine nach dem Welt- und Menschenbild. Und dieses hat sich im Laufe der Jahrtausende, auch im vorangegangenen Millennium, wiederholt dramatisch verändert. Also sind solche Veränderungen normal, sie passieren eben. Wie sind sie in der Vergangenheit passiert? Es wurden neue Ideen, neue Vorstellungen geboren, und Menschen haben daraufhin neue Sachen als wertvoll, als begehrenswert betrachtet. Und wie sind die neuen Vorstellungen geboren? Zuerst waren es Einzelne, die sie dachten, fühlten, über sie sprachen. Sie haben die Samen des Neuen gesät. Und wenn die äußeren Bedingungen für das Wachstum dieser Sprösslinge günstig wurden, verdrängten sie mit der Zeit den alten Bewuchs. Und auf einmal sah die Welt ganz anders aus.
In der Vergangenheit war dieser Prozess langsam, weil der Druck der Veränderung gering war. Heute ist der Druck gewaltig, und der Prozess wird deswegen beschleunigt. Trotzdem brauchen wir Menschen, die das neue Denken, die neuen Ideen und Ideale entwickeln, darüber sprechen und danach handeln. Das Saatgut muss gesät werden. Das passiert gerade. Ich hoffe, dass diese Menschen bald sichtbar werden, dass sie sich zusammentun.
Continentia: Wie sieht eine genügsame Zukunft aus?
Stern: Sie fußt auf anderen Werten als die, die wir in den letzten 200 Jahren zugelassen haben: auf der Achtung des nicht menschlichen Lebens zum Beispiel, auf harmonischem Miteinander, auf dem Ethos der Humanität und des individuellen Wachstums, auf Selbstverantwortung. Es ist eine Zukunft, in der Verschwendung als unmoralisch angesehen wird, in der Sanftmut Hochachtung anderer hervorruft, in der Charakter und nicht das Bankkonto über die gesellschaftliche Position des Menschen bestimmt.
Man sollte aber vielleicht zuerst erklären, was Genügsamkeit ist. Genügsamkeit bedeutet, dass man nur das kauft, was man wirklich braucht, und dass man eine Sache so lange nutzt, wie sie noch nutzbar ist, und sie nicht einfach wegwirft, weil man etwas anderes gesehen hat. Damit ist Genügsamkeit das Gegenteil der Verschwendung und des Überflusses. Wir zu Hause nutzen z. B. immer noch die Tragetaschen, in die man uns gekaufte Kleider in den 90er-Jahren verpackt hatte, und wenn ich Kartoffeln in einer Papiertüte kaufe, nehme ich die Tüte das nächste Mal mit, wenn ich wieder Kartoffeln brauche. Bevor ich mir eine neue Hose kaufe, schaue ich im Kleiderschrank nach und überlege genau, ob ich sie wirklich benötige. Beispiele kann es unendlich viele geben, weil Genügsamkeit eine Einstellung zur Welt ist und kein Set an Geboten und Verboten.
Genügsamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen, die von Achtung und Verantwortung gekennzeichnet ist. Deswegen wird man sie nie verordnen können. Sie ist ein Nebenprodukt der Reife des Menschen. Sie kommt ganz natürlich zu uns, wenn wir unsere Prioritäten ändern. Wenn wir die persönlichen Ziele und die Entwicklung in der Familie nicht mehr im Reichtum und Konsum sehen, sondern die Charakterstärke, Bildung und Güte hochhalten, werden wir und unsere Nächsten automatisch genügsamer. Das sind also die Werte, die wir in der Gesellschaft hochschätzen sollten und die wir unseren Kindern wieder vermitteln müssen. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was die Mehrheit der Kinder heute lernt.
Continentia: Unsere Wirtschaft und deswegen auch unser gesamtes zivilisatorischen Modell ist aber darauf aufgebaut, dass Menschen Dinge kaufen, die sie nicht unbedingt brauchen. Wir betrachten es mittlerweile als Ausdruck der Lebensqualität, als einen Teil unserer persönlichen Freiheit. Das, was Sie sagen, würde also bedeuten, dass wir die Wirtschaft komplett umbauen und dass die Menschen ihre Gewohnheiten ändern. Wie wollen Sie das erreichen?
Stern: Ich kann es nicht. Aber wir können es. Es wird ein Zusammenspiel von Umdenken, von dem neuen Saatgut, über das ich gesprochen habe, und vom gezielten Umbau des Systems sein.
Continentia: Reicht ein Umdenken, diese neue Einstellung zur Welt, die Sie Genügsamkeit nennen, um eine nachhaltige Zivilisation aufzubauen?
Stern: Nein, aber sie ist unabdingbar. Die Geschichte lehrt uns, dass Strukturen, die auf Zwang beruhen, von kurzer Dauer sind. Man kann Genügsamkeit in das wirtschaftliche System einbauen, und die Methode des systemischen Redesigns bietet dafür eine wertvolle Vorlage. Wenn es aber ein stabiles System werden soll, muss die Kultur mit ihren Bildern, Erzählungen, Überzeugungen und Idealen sie stützen. Die Menschen müssen sie als etwas Schönes und Erstrebenswertes betrachten.
Die nachhaltige Wirtschaft muss ein lebendiges System werden, und Leben lässt sich nicht designen. Leben blüht auf, wenn die Umwelt für sein Gedeihen günstig ist. Redesigning Civilization bedeutet, wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, aber eben auch kulturelle Strukturen zu schaffen, in denen Nachhaltigkeit aufblühen kann. Bei meinem Nachdenken über eine nachhaltige Zivilisation ist mir klar geworden, dass Genügsamkeit in Bezug auf die materielle Welt und Unersättlichkeit in Bezug auf die humane Entwicklung das Einzige ist, was ein stabiles nachhaltiges zivilisatorisches System konstituieren kann.
Eins muss uns aber so bald wie möglich klar werden: Die Machthaber, die große Wirtschaft, die großen Medien sind Produkte dieses Systems, und ihr Überleben ist davon abhängig, dass sie ihre Position innerhalb des Systems behalten. Sie sind Erzeugnisse seiner Prozesse und Strukturen – sie werden dieses System nicht ändern. Das müssen wir tun. Ein grundsätzlich anderes System kann nur von unten wachsen, d. h. basisdemokratisch.
Es wird nicht einfach sein, das ist klar, aber es ist möglich. Ich würde sogar sagen, dass es unumgänglich ist. Unsere Wahl heißt nämlich nicht: entweder weiterhin Überfluss und Verschwendung oder Genügsamkeit. Unsere Wahl heißt: Entweder sehen wir zu, wie das derzeitige System zusammenbricht, und leiden dabei oder wir leiten das Redesign des Systems ein. Ich bin für das Zweite.
Continentia: Herr Stern, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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