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Continentia

Auf der Suche nach einer anderen Welt

Aktualisiert: 23. Apr. 2023


Um unsere Welt in der Zukunft anders zu gestalten, müssen wir sie zuerst verstehen. In dem Gespräch mit Frau Prof. Marianne Gronemeyer auf der Frankfurter Buchmesse haben wir uns auf die Suche nach einem neuen Verständnis unserer Welt begeben. In diesem Beitrag finden Sie die Niederschrift dieses Gesprächs.


Bücher


A. Sternowski: Es wird erst seit ein paar Jahren und noch zaghaft darüber gesprochen, dass unsere Wachstumsökonomie kein Zukunftsmodell sein kann – einfach, weil wir auf einem begrenzten Planeten leben.


Was sich noch nicht so herumgesprochen hat, ist, dass auch die Kultur unserer Konsum- und Unterhaltungsgesellschaft einem Verflachungsprozess ausgesetzt ist. Es ist also nicht nur die Natur, die wir durch unser Verhalten und unsere Einstellung zur Welt zerstören.


Marianne Gronemeyer spricht über die Kehrseiten der Wachstumsgesellschaft bereits seit den 80er-Jahren und hat darüber etliche Bücher publiziert. Das macht sie zu einer idealen Gesprächspartnerin über unser heutiges Thema, das lautet: „Auf der Suche nach einem neuen Verständnis unserer Welt“. Das ist auch der Untertitel des Buches „Weltbild für den Blauen Planeten“, zu dem Frau Gronemeyer einen sehr interessanten Essay unter dem Titel „Es gibt nichts Gutes, außer man lässt es. Über Halt und Haltung“ geschrieben hat.


Ich möchte unser Gespräch mit einer These anfangen. Meine These ist, dass unser Denken über unser Handeln bestimmt. Was wir glauben, was wir wollen, materialisiert sich auch irgendwann mehr oder weniger. Würden Sie dem zustimmen?


Marianne Gronemeyer: Ich könnte dem bedingt zustimmen, aber ich würde die These gleichzeitig umdrehen, um einen anderen Blick darauf zu bekommen. Ich würde sagen, dass unser Handeln können unser Denken bestimmt. Meine Gegenthese wäre: Wir müssen weitaus radikaler denken, als wir handeln können.


Unsere Handlungsmöglichkeiten in dieser Welt sind sehr eingeschränkt, auch wenn wir glauben, uns sogar sicher sind, dass wir unter freiheitlichen Verhältnissen leben. Das ist bereits ein Zugeständnis an das, was wir an Unfreiheit ertragen. Ich glaube, dass wir uns davor drücken, wirklich radikal davor drücken, zur Kenntnis zu nehmen, wie vielen Unfreiheiten wir in unserer scheinbaren Freiheit unterliegen. Und das hängt damit zusammen, dass wir eine konsumistische Gesellschaft sind. Dieses konsumistische Modell (dass wir alles nur unter dem Gesichtspunkt betrachten, was es kostet, was ich davon habe, mit wem ich konkurrieren muss, damit ich kriege, was ich haben will) führt in die kriegerische Auseinandersetzung der Menschen untereinander.


Wir müssen weitaus radikaler denken, als wir handeln können.

Mein wichtigster Lehrer, Ivan Illich, hat einmal von uns als kriegenden Menschen gesprochen: Der Konsument und die Konsumentin sind kriegende Menschen, die das, was sie brauchen, kriegen müssen, weil sie inzwischen völlig unfähig sind, selbst für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu sorgen, und ihr Leben nur mithilfe von gekauften Dienstleistungen meistern können. Klar können wir den Lichtschalter betätigen, und siehe da: Das Licht geht an. Wir sind unseres Lichtes mächtig. Aber in Wirklichkeit ist es eine Illusion, denn in dem Augenblick, in dem das Licht nicht angeht, sind wir völlig unfähig, irgendwas dafür zu tun, dass wir genug Licht haben. Unsere Vorstellung, dass wir unser Leben meistern, hängt davon ab, dass die Supermärkte voll sind, dass die großen Systeme, die uns Licht oder Wasser spendieren, funktionieren. Alles das beherrschen wir nicht mehr, können wir nicht mehr.


Deswegen würde ich sagen, die Möglichkeit zu denken, radikaler zu denken, als wir handeln können, ist durch diese Unfähigkeit zu handeln sehr beschränkt. Wir haben schon an unserem Kopf „Schaden genommen“, vor allem an unserer Fantasie, weil wir uns nichts anderes mehr vorstellen können, als nach Versorgung zu streben. Und nach Versorgung zu streben heißt, Geld verdienen zu müssen, also unsere Arbeitskraft zu Markte zu tragen, und das heißt wiederum, sich den Bedingungen, die da gelten, zu unterwerfen.


Wir haben schon an unserem Kopf „Schaden genommen“, vor allem an unserer Fantasie, weil wir uns nichts anderes mehr vorstellen können, als nach Versorgung zu streben.

In einem pointierten Satz könnte ich sagen: Jeder Euro, den wir nicht brauchen, ist ein winziger Zuwachs an Freiheit. Wir müssen dann diesen Euro ersetzen durch etwas, was wir können. Wir Menschen sind könnende Wesen. Wir können etwas. Wir sind eigentlich gut geeignet, unser Leben zu meistern, aber völlig entwöhnt dadurch, dass man uns glauben gemacht hat, dass wir alles, was wir brauchen, kriegen müssen.


A. Sternowski: Der Fakt, dass unser Leben inzwischen völlig auf Konsum aufgebaut ist, ist also der Kern unserer Probleme?


Marianne Gronemeyer: Das ist die zweite Pointe dieses Satzes: Der Mensch ist ein kriegender Mensch in der Konsumgesellschaft. Um das zu kriegen, was er glaubt, haben zu müssen, muss er mit anderen konkurrieren. Andere wollen nämlich dasselbe wie er oder sie. Insofern sind wir gemeinsam auf einem Kriegsschauplatz. Wir sind kriegende Menschen im doppelten Sinn: abhängig davon, versorgt zu werden, und in einer permanenten Konkurrenz mit anderen, die das Gleiche wollen. Wir haben es mit einer Sieger- und Verlierergesellschaft zu tun.


Ich würde also Ihrem Satz zustimmen, aber nur wenn ich gleich den Gegen-Satz sage. Und das ist eine wunderbare Möglichkeit, die wir haben und derer wir uns auch bedienen sollen: dass wir mit den Widersprüchen leben und nicht gegen sie ankämpfen zugunsten der Eindeutigkeit.


A. Sternowski: Eindeutigkeit impliziert, dass wir alle das Gleiche denken …


Marianne Gronemeyer: Wir leben in einer Situation, in der die Eindeutigkeit ein solches Privileg genießt gegenüber der Vieldeutigkeit, dem Verschwommenen, dem Nicht-genau-Wissen, dem Probierenmüssen, dem Wagenmüssen, dass wir uns eigentlich nur noch sicher fühlen, wenn wir alle zu dem Gleichen Ja sagen, alle zu dem Gleichen unseren Nicker abgeben; und wenn der Nicker funktioniert hat, haben wir alle das Gefühl: Wir haben einen Konsens, wir sind eines Sinnes und sprechen eine Sprache.


Ich muss mir nur die Verlautbarungen der Medien um mich herum anhören, um meinen Zorn über diese Eindeutigkeit und über diesen ungeheuren Verlust an Vielfalt zu nähren. Die Medien haben in Zeiten von Corona und erst recht seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine sträflich versagt. Sie sind ihrer Aufgabe der Berichterstattung und der Kritik nicht nachgekommen, die ja bedeuten würde, einer kritisch fungierenden Öffentlichkeit perspektivenreiche Informationen bereitzustellen, welche die Bürgerinnen und Bürger zu einer begründeten Urteilsbildung befähigen. Stattdessen haben sie in ihrer erdrückenden Majorität eine Mehrheitsmeinung nach allen Regeln der „Kunst“ der Massenpsychologie erst hergestellt und ihr dann Dominanz dadurch gesichert, dass anderes Denken, Fühlen, Trachten und Erwägen nicht nur unberücksichtigt bleibt, sondern einhellig für vernunft- und rechtswidrig, leichtfertig, verantwortungslos, gemeinschaftschädigend, kurz: indiskutabel erklärt wird. Wofür brauchen wir ZDF und ARD, Spiegel- und Bild-Online, wenn alle aus dem gleichen Horn blasen? Und wie leichtfertig darf ein Rechtsstaat die Meinungsvielfalt abblasen, wenn und weil wir in der Krise stecken? Ein in einen Krieg verwickeltes Land, in dem jede auf Verhandlung, Gespräch und schließlich Versöhnung gerichtete Position und jeder Pazifismus verunglimpft werden, macht mich heimatlos.


Die Medien haben in Zeiten von Corona und erst recht seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine sträflich versagt. Sie sind ihrer Aufgabe der Berichterstattung und der Kritik nicht nachgekommen.

Menschen sind unendlich vielfältige Wesen. Jeder ist anders. Es gibt keine zwei Menschen, die einander gleichen, und keine zwei Meinungen und Verständnisse von Welt, die gleich sind. Aber wir tun so, als seien wir alle eines Sinnes, und beten das nach, was uns als das richtige Verständnis von der Welt eingetrichtert wird. Wir sind über das Gleiche betroffen. Wir sind über das Gleiche verstört und hoffen auf das Gleiche. Worum es ginge, wäre Mehrdeutigkeit. Und wenn wir beide zwei Sätze, die sich eigentlich widersprechen, präsentieren, kann ich nur sagen: Wir haben einen wunderbaren Anfang gemacht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Vieldeutigkeit, Meinungsverschiedenheit ist vielleicht das Gut, das uns im Moment am meisten fehlt, an dessen Niedergang wir am meisten kranken. Und ich möchte jeden ermutigen, der eigenen Meinung etwas zuzutrauen, um sie im Gespräch mit anderen zu schärfen, zu klären, infrage zu stellen. Wenn wir alle nur zu dem Gleichen Ja sagen, hört das Infragestellen auf.


A. Sternowski: Es ist nicht so behaglich, dem Gegenüber zu widersprechen …


Marianne Gronemeyer: Und diese Einstellung hat eine enorm gefährliche Konsequenz. Es hat die Konsequenz, dass wir alle in modernen Selbstverständlichkeiten leben. Moderne Selbstverständlichkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht mehr infrage gestellt werden können.


Ich habe neulich eine Selbstverständlichkeit von einem jungen Mann ausgesprochen gehört, die mir das Blut in den Adern hat gerinnen lassen. Als ich meine Bedenken angemeldet habe gegen die Art, wie wir uns in dieser Kriegssituation positionieren, hat mir dieser junge Mann ins Gesicht gesagt: „Frau Gronemeyer, man kann Putin nicht alles durchgehen lassen. Einen Atomkrieg müssen wir schon riskieren.“ Wenn das die Selbstverständlichkeit ist, die alle sagen können, dann ist das das Ende unserer Tage.


Bei unseren Selbstverständlichkeiten ahnen wir gar nicht mehr, dass wir nur noch einem Stimmungsbild, das sich verfestigt hat, folgen, weil es so wehtut, anderer Meinung zu sein. George Steiner hat ein Buch darüber geschrieben, warum Denken traurig macht. Und das kann jeder von uns nachempfinden, der einmal gegen eine solche Selbstverständlichkeit angedacht hat: Es macht traurig, man gerät in Zwiespalt miteinander, kann nicht mehr kuscheln und kosen und sich wohlfühlen im allgemeinen Konsens. Also wieder zu lernen, anders zu denken und die damit verbundene Traurigkeit auszuhalten, wäre das, was wir brauchen.


Wieder zu lernen, anders zu denken und die damit verbundene Traurigkeit auszuhalten, wäre das, was wir brauchen.

Deswegen bin ich froh, dass wir mit einem Satz angefangen haben, der uns beide nötigt. Ich muss es mir jetzt sehr scharf überlegen, wenn ich nach Hause komme, wie ich mich mit Ihrem Satz versöhnen kann, und Sie werden wahrscheinlich etwas Ähnliches tun.


A. Sternowski: So war auch die Idee hinter diesem Buch: verschiedene Denkweisen zu präsentieren und auf diese Weise gemeinsam nach einer Korrektur unserer Welt zu suchen, nach Ideen, wie wir eine andere Welt aufbauen können.


Ich habe Ihre Aussage in diesem Buch so verstanden, dass das herrschende Paradigma, den Wert von allem in Geld zu messen, nicht nur über unser Leben, unsere Gesellschaft, über die Politik bestimmt, sondern auch über unser Denken und Handeln. Das ist sehr interessant, besonders in dem Kontext der digitalen Kommunikationskanäle. Die Wahrnehmung der meisten Menschen heute ist wahrscheinlich eine andere. Heute kann doch jede und jeder die eigene Meinung kundtun, und zwar in den neuen Medien. Die meisten würden wahrscheinlich sagen, dass die Vielfalt der Meinungen zunimmt. Sie sagen das Gegenteil. Könnten Sie Licht in diese Sache bringen?


Marianne Gronemeyer: Zuerst möchte ich an den Anfang Ihrer Aussage anknüpfen. Sie haben gesagt: Eine andere Welt muss her. Als Sie mir geschrieben haben, welches Thema Sie für dieses Gespräch planen, haben Sie gesagt: Eine bessere Welt muss her. So fängt das Denken an, dass wir auf die Sprache achten. Es macht einen Riesenunterschied, ob ich mir eine andere Welt oder eine bessere Welt denke. Und dann macht es nochmal einen Riesenunterschied, ob ich mir eine Welt denke oder Abertausende von Welten. Eine Welt von Abertausenden von Welten entsteht in kleinen Gemeinschaften, in Familien, in Situationen, in denen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen, in denen sie einander etwas schuldig sind, in denen sie gemeinsam arbeiten …


Der Eine-Welt-Gedanke ist von solch hölzerner Grobheit, dass ich ihm einfach nicht folgen will. Ich will nicht über die Welt sprechen, sondern ich will über konkrete Situationen sprechen, in denen Menschen sich befinden. Wir bilden hier während dieser Veranstaltung gerade eine Welt, und ich kann sie beschreiben. Sie sitzen da vor mir und ich muss Ihnen sehr dankbar sein, bin es auch, dass Sie mir Ihre Zeit gönnen und mir zuhören. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zu viel schuldig bleibe – ich habe die Verantwortung dafür, Ihre Zeit nicht zu vergeuden. Das ist eine Welt. Wenn wir uns im Anschluss im Gespräch finden würden, dann würden wir feststellen, wie unendlich viel Vielfalt an Talent, Begabung, Könnerschaft, Erfahrung, Lebensweisheit hier versammelt ist.


Also so viel zu einer Welt. Und die bessere Welt, um das noch zu sagen … mit der habe ich gar nichts zu tun. Ich will keine bessere Welt. Wenn ich das Wort besser sage, dann meine ich, dass das, was ist, gut ist und es nur darum geht, es ein bisschen besser zu machen. Wenn ich aber glaube, dass die Welt, in der ich lebe, Absurdistan ist, dann muss sie nicht besser werden, weil ich dann das Absurde nur perfekter mache. Dann muss sie anders werden. Und „anders werden“ heißt, dass ich mich von dieser Welt distanziere und einen ganz anderen Standpunkt in meiner Betrachtung annehme. Also „bessere Welt“ interessiert mich nicht. Ich will viele andere Welten.


Ich will keine bessere Welt. Wenn ich das Wort besser sage, dann meine ich, dass das, was ist, gut ist und es nur darum geht, es besser zu machen. Wenn ich aber glaube, dass die Welt, in der ich lebe, Absurdistan ist, dann muss sie nicht besser werden, weil ich dann das Absurde nur perfekter mache. Dann muss sie anders werden.

Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit. Im Gegenteil: Die grassierende Vergleichgültigung, das allgemein werdende schulterzuckende „So what?“, das „Na und?“, dem nichts mehr anstößig ist, ist vielleicht die moderne Attitüde, die uns am meisten Sorgen bereiten müsste. Ich spreche von „Haltung“ und zitiere noch einmal Ivan Illich. Er beschreibt Haltung so: „Aber ich will nicht in diese Welt gehören. Ich will mich in ihr als Fremder, als Wanderer, als Außenseiter, als Besucher, als Gefangener fühlen. Dieser Wunsch ist das Vorurteil, von dem ich spreche. Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, also einer Haltung, nein nicht einer Haltung, meiner Haltung. Nicht einer Meinung, Wertung, Ausgangshypothese, sondern einer Grunddisposition. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich be-stehe, auf den ich mich an jedem Punkt besinne.“


A. Sternowski: Der Titel Ihres Essays in diesem Buch lautet: „Es gibt nichts Gutes, außer man lässt es“. Was denken Sie, sollen wir als Erstes lassen?


Marianne Gronemeyer: Ach, das ist sehr vieles, was wir lassen müssen, glaube ich. Das wächst uns buchstäblich über den Kopf. Sich in der Kunst des Unterlassens zu üben, wäre das Erste, was uns einen Schritt in eine andere Richtung bringen könnte. Wir haben uns jetzt jahrhundertelang nur mit dem Gedanken beschäftigt, wie wir Besseres erwirken können, wie wir noch mehr aus dem herausholen können, was uns die Welt bietet. Und wir sind jetzt an den Punkt gekommen, wo alles darauf ankommt, die Kunst des Unterlassens zu üben.


Sich in der Kunst des Unterlassens zu üben, wäre das Erste, was uns einen Schritt in eine andere Richtung bringen könnte.

Diese Kunst des Unterlassens hat nicht nur schlechte Seiten. Es ist nicht nur ein Verlust. Es liegt eine Verheißung hinter dem Unterlassen, an die ich ganz fest glaube. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es befreiend ist, wenn wir weniger Krempel um uns herum versammeln. Ich bin jetzt 81 Jahre alt. Das heißt, meine Zeit nähert sich ihrem Ende und ich spüre in meinem Leben zunehmend, wie viel Last mir alles das, was sich angesammelt hat, bereitet. Gleichzeitig weiß ich, dass es sehr schwer ist, alles umzuorganisieren und ganz viel einfacher zu leben, den Krempel aus der Wohnung, aus Kopf und Herz rauszuwerfen. Ich weiß von einer Familie, die sich jedes Jahr das Vergnügen gönnt, sich darüber Gedanken zu machen: Was haben wir im letzten Jahr nicht gebraucht? Das wird alles nach draußen vor die Tür gestellt. Diese Art der Entrümpelung des eigenen Lebens, glaube ich, spielt eine große Rolle beim Unterlassen.


Man wird auch Freude daran finden, dass es auf einmal lichter wird. Und das sind nicht nur Dinge. Das ist bei mir zum Beispiel ganz sicher der Ehrgeiz. Ich bin eine ehrgeizige Person. Ich wollte immer irgendwie doch besonders werden, ein bisschen bedeutend werden. Ich fand auch erstrebenswert, akzeptiert zu werden, dazuzugehören. Zu entrümpeln heißt auch, diese Art von Zwang hinter sich zu lassen. Das ist leichter gesagt als getan, aber es ist der erste Schritt in eine andere Welt, in der es darum geht, sich zu befreunden, statt zu konkurrieren.


Mein Lehrer, Ivan Illich, hat in seinen letzten Lebensjahren viel von der Philia, von der Freundschaft, gesprochen, die eine Art lebensrettender Maßnahme ist. Sie bedeutet, sich zu befreunden nicht nur mit meines- und deinesgleichen; auch mit dem Tier vor meiner Tür und mit der Kiefer, die dort wächst …


Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. In meiner Küche hat sich eine Hummel verirrt und sie lag auf der Fensterbank mit allen Anzeichen eines allmählichen Absterbens – sie war vollkommen entkräftet. Es gibt keine Zufälle. Wie durch ein Wunder habe ich wenige Tage vorher von jemandem gehört: Wenn man Hummeln in diesem Zustand antrifft, dann haben sie Hunger. Dann müsse man ihnen etwas Honig geben. Ich habe mich daran erinnert und habe der Hummel etwas Honig gegeben. Mit Zahnstocher und allen möglichen Kleinstmitteln habe ich dieser Hummel Honig vor ihren Sauger gelegt. Sie war zwar bereits sehr matt, aber dann hat sie ihren Rüssel doch in diesen Honig getan. Und vielleicht nach einer halben Stunde (ich bin bei ihr geblieben, konnte diesem Faszinosum gar nicht entgehen) hat sie angefangen, den Honig zu saugen. Und dann hat sie die Vorderbeine aufgerichtet, dann die Hinterbeine und nach einiger Zeit hat sie die Flügel ausgebreitet und ist aus dem Fenster davongeflogen.


Nicht weil ich ihr geholfen habe, ist diese Geschichte so wichtig, sondern weil diese Hummel mich gelehrt hat, diese Art von Wesen zu lieben. Und das ist deutlich mehr, als wenn ich über das Insektensterben informiert werde. Ich kann keiner Hummel mehr wehtun. Ich bin sehr viel nachdenklicher im Hinblick auf meine Mitwesen. Also was könnte das sein, was uns das Unterlassen lehrt? Die Befreundung. Wir können uns befreunden mit dem, was um uns herum ist.


A. Sternowski: Das ist das Besondere an Ihrem Essay in diesem Buch, dass Sie den Fokus von der ganzen Welt, von einer „besseren Welt“, auf das lenken, was ein menschliches Maß besitzt, auf das Konkrete, auf das, worauf jede und jeder von uns ganz konkret Einfluss hat.


Unsere Zeit ist leider schon vorbei. Wenn wir beide uns am Anfang in unseren Meinungen unterschieden haben sollten, sind wir uns während unseres Gespräches doch nähergekommen. Ich habe nicht zufällig den Namen meines Verlages gewählt: Continentia bedeutet Genügsamkeit, und Ihre Aussagen über das Unterlassen und die Entrümpelung unseres Lebens sind mir sehr sympathisch.

Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Das Gespräch fand am 20. Oktober 2022 statt.



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